Eine Frau in Berlin
Holzaugen, mir entgeht so leicht kein Scheit. Ich entdecke immer neue, noch nicht abgesuchte Plätze in Kellern, Ruinen, verlassenen Baracken. Zu Mittag brachte Fräulein Behn uns die neuen Karten. Die Witwe, Pauli und ich gehören einstweilen zur fünften, niedrigsten Kategorie der »sonstigen Bevölkerung«. Ich notiere anhand meiner Karte die Mengen für einen Tag: 300 Gramm Brot, 400 Gramm Kartoffeln, 20 Gramm Fleisch, 7 Gramm Fett, 30 Gramm Nährmittel, womit sie Gries, Graupen, Haferflocken usw. meinen, 15 Gramm Zucker. Dazu pro Monat 100 Gramm Kaffee-Ersatz, 400 Gramm Salz, 20 Gramm echten Tee und 25 Gramm Bohnenkaffee. Zum Vergleich einige Zahlen der Karte für Schwerarbeiter von Gruppe I, in die auch »namhafte Künstler« und Techniker, Betriebsleiter, Pfarrer, Schuldirektoren, Seuchenärzte und Seuchen-Schwestern eingereiht sind: 600 Gramm Brot am Tag, 100 Gramm Fleisch, 30 Gramm Fett und 60 Gramm Nährmittel; und im Monat 100 Gramm Bohnenkaffee. Dazwischen liegen die Karten II für Arbeiter und III für Angestellte, mit 500 und 400 Gramm Brot am Tag. Bloß die Kartoffeln werden demokratisch gleich auf alle Mägen verteilt. Für Kopfarbeiter zweiter Garnitur ist Karte II vorgesehen; vielleicht kann ich da hineinschlüpfen.
Im Volk ist Beruhigung spürbar. Jeder sitzt da und studiert seine Karte. Es wird wieder regiert, es wird von oben für uns gesorgt. Ich wundere mich darüber, daß wir überhaupt so viel erhalten sollen, und bezweifle die Möglichkeit pünktlicher Zuteilungen. Die Witwe freut sich auf den Bohnenkaffee, verspricht, Stalin bei der ersten Tasse hochleben zu lassen.
Am Nachmittag spazierte ich mit der Hamburgerin und ihrer Tochter Stinchen zum Rathaus. Stinchens wegen hatte mich die Hamburgerin darum gebeten. Es scheint, daß Stinchen Jungmädelführerin oder etwas Ähnliches war, wofür sie Repressalien befürchtet, denen ich notfalls mit russischem Palaver entgegentreten soll. Die Witwe schloß sich uns an.
Unterwegs auf der Straße zum Rathaus wieder Getriebe und Gewimmel. Sogar ziemlich viele Männer darunter; doch immer noch spürbarer Frauenüberschuß im Freien. Ich sah sogar eine Frau mit Hut – die erste seit langem.
Vor einigen Bankfilialen, die ich neulich mit dem Oberleutnant inspiziert hatte, waren Posten aufgestellt: zwei Russen mit erhobener Knarre. Auf eventuelle Bankkunden wirken sie entschieden abschreckend.
Das Rathaus wieder ein Bienenkorb. Wir standen im stockfinsteren Gang und warteten. Um uns ging im Dunklen das Gerede. Thema: Verschütt.
Ja, das interessiert uns alle, soweit sie uns zu fassen bekamen.
»Jede zweite Frau soll verschütt gegangen sein«, behauptet eine Stimme.
Darauf eine andere, schrill: »Wenn schon. Das macht einem doch jeder weg.«
»Stalin soll ja angeordnet haben, daß die mit einem Russenkind Karte Eins kriegen«, meinte eine dritte.
Darob allgemeines Gelächter: »Möchten Sie dafür –?«
»Nee, lieber tät' ich mir sonstwas an.« Die Witwe stieß mich im Dunkeln an, wollte meinen Blick erhaschen. Ich mochte nicht. Mag nicht daran denken. Nächste Woche um diese Zeit weiß ich es besser.
»Waren Sie schon im Krankenhaus?« so ging dann in der Frauenschlange die Frage.
»Nein, wieso?«
»Da haben sie doch jetzt eine Untersuchungsstation für vergewaltigte Frauen eingerichtet. Da müssen alle hin. Von wegen der Geschlechtskrankheiten.«
Wieder stieß die Witwe mich an. Ich weiß noch nicht, fühle mich sauber, möchte es abwarten.
Natürlich ging mit Stinchen alles glatt, kein Mensch fragte sie nach ihrer ruhmreichen Vergangenheit. Auch ein Witz, daß schon die Unmündigen für Dinge bestraft werden sollen, an denen sie unter dem Kopfnicken sämtlicher Eltern, Lehrer und Führer teilnahmen. Wenn unsere Vorfahren, wie ich es aus Quellen weiß, kindliche Hexen verbrannt haben, so doch immerhin deshalb, weil sie diese Hexenkinder für Wohnsitz und Sprachrohr sehr ausgewachsener Teufel hielten. Schwer, den Punkt herauszufinden, wo Zurechnung im abendländischen Sinne beginnt.
Auf dem Heimweg kam eine Frau aus dem Haus nebenan mit. Sie erzählte uns, wie ihre Flurnachbarin, nachdem sie mehrfach mit dem gleichen Russen gesoffen und geschlafen hatte, von ihrem eigenen Mann hinterrücks am Küchenherd mit einer Pistole erschossen worden sei – worauf sich der Mörder, ein wegen seines Herzleidens von der Wehrmacht heimgeschickter Beamter, selber eine Kugel in den Mund schoß. Zurück blieb das einzige Kind der beiden, ein Mädchen
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