Eine Freundin zum Anbeissen
Buttermilch und tupfte sich den Mund mit einer rosa-weiß geblümten Serviette ab. Er klickte sich durch mehrere private Ordner, bis er zum Unterordner »Familie T./ Nr. 23" kam. Er öffnete eine Tabelle. In den Spalten stand: Datum/Zeit; Ort; Subjekt; Subjektbeschreibung; Handlung; Äußerung; Anmerkungen.
Dirk van Kombast überflog die Zeilen und tippte sich dabei mit dem Zeigefinger an den Mund. Dann schrieb er unter die Tabelle: Besonders verdächtig bei Subjekt M. T. sowie ferner bei den Subjekten D. T. + S. T. (Subjekt E. T. noch unklar): blasse, beinahe durchsichtige Haut; erdiger Geruch, überlagert von Sonnencremeduft; Orgelmusik aus dem Keller, nächtliche Aktivi...
»Schreibst du mir heimlich einen Liebesbrief?«
Dirk van Kombast zuckte zusammen. Sonja, die temperamentvolle Krankenschwester von Dr. Röchel, umklammerte ihn von hinten mit beiden Armen. Er hatte ganz vergessen, dass sie noch in seiner Wohnung war.
»Besonders verdächtig«, las Sonja. »Was soll das denn sein? Spielst du Hobbydetektiv oder so was?«
»Nein«, zischte Dirk van Kombast und schloss schnell das Fenster mit der Tabelle, bevor Sonja weiterlesen konnte. Er wusste, dass die Krankenschwester ihn nur auslachen würde, wenn er ihr die Wahrheit sagte, ihr sein Geheimnis preisgab.
Dirk van Kombast erinnerte sich noch genau, wie seine Mutter ausgelacht worden war. Irene van Kombast war die schönste Frau, die Dirk kannte. Niemand hatte so schönes blondes Haar, so weiche Hände und so warme Augen wie seine Mutter. Als Kind war sie ihm wie ein Engel vorgekommen. In der Schule wurde Dirk als Muttersöhnchen veralbert, aber das war ihm egal. Dirk hatte zwar auch einen Vater, einen großen, unternehmungslustigen Wagehals, aber er interessierte sich nicht für seine Abenteuer. Lieber saß er bei seiner Mutter, fuhr mit ihr einkaufen oder kuschelte sich mit ihr auf der Couch zusammen.
Doch an einem nebligen Novembertag geschah etwas, das Irenes und das Leben der ganzen Familie ändern sollte. Dirk war gerade vor ein paar Monaten in die zwölfte Klasse gekommen. Als er aus der Schule nach Hause kam, fand er seine sonst so schöne Mutter mit vollkommen zerzausten Haaren, zerschlissenen Kleidern und einem furchterregenden, leeren Blick in der Küche. Dirk versuchte sie zum Reden zu bringen, rief seinen Vater, der rief den Arzt – doch Irene van Kombast sagte einen Monat lang kein Wort.
Ein Arzt diagnostizierte Schock, ein anderer ein Trauma und ein dritter eine Stimmbandlähmung. Die Polizei kam und befragte die Nachbarn. Ein Nachbar hatte Irene van Kombast an dem Novembertag in den Wald laufen sehen, ein anderer hatte sie auf dem Dach des Kirchturms gesehen und ein dritter im Hundesalon (obwohl die van Kombasts gar keinen Hund besaßen).
Am 32. Tag nach dem rätselhaften Vorfall im November begann Frau van Kombast wieder zu reden. Der erste Arzt sagte, sie sei aus dem Schock aufgewacht, der zweite Arzt meinte, sie würde jetzt ihr Trauma aktiv verarbeiten, und der dritte Arzt, der die Stimmbandlähmung diagnostiziert hatte, erklärte sie für geheilt. Doch was Irene van Kombast da sprach, hörte sich gar nicht gesund an. Sie wedelte wild mit den Armen, riss die Augen auf und rief: »Geh weg, rapedadi! Verschwinde, du Blutsauger!« Das tat sie, bis sie völlig außer Atem war. Dann ließ sie sich in den Sessel fallen und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Nur wenn Dirk sich zu ihr setzte, lächelte sie schwach.
Der Zustand von Irene van Kombast wurde nicht besser. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. In der Nachbarschaft begann man, über Frau van Kombast zu reden. Manche hatten Mitleid mit ihr, andere taten nur so. Die meisten hielten sie für vollkommen durchgeknallt.
Herr van Kombast setzte sich immer seltener zu seiner Frau. Manchmal blieb er über Nacht weg, manchmal ein paar Tage, manchmal eine Woche. Auf Rat der Ärzte ließ er seine Frau schließlich in eine psychiatrische Klinik einweisen. Auf Rat seiner Freunde ließ er sich von Irene van Kombast scheiden. Dirk wohnte noch ein Jahr bei seinem Vater. Sobald er 18 war, zog er aus. Er vergaß seinem Vater nie, dass er seine Mutter einfach im Stich gelassen hatte.
Dirk besuchte seine Mutter anfangs täglich in der Klinik. Meistens lächelte sie ihn nur an, doch manchmal redete sie auch. Zunächst fiel es Dirk schwer, ihr zu folgen. Doch wie bei einem Puzzle setzten sich die Satzfetzen zu einem Bild zusammen, und er verstand nach und nach. An jenem nebligen Novembertag hatte
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