Eine Freundin zum Anbeissen
das schönste und klügste Mädchen der 7 b war, sondern auch das spannendste und coolste. Aber etwas war sehr merkwürdig: Helene hatte trotzdem keine Freunde. Bestimmt hätte sie immer jemanden gefunden, der gerne ihre Schultasche getragen oder sein Pausenbrot mit ihr geteilt hätte. Aber obwohl Helene in den Augen der Zwillinge die perfekte Freundin wäre, blieb sie immer für sich. Manche Schüler machten einen Bogen um sie, manche Lehrer behandelten sie wie ein rohes Ei. Lag es daran, dass sie manchmal so modrig roch? Oder von einer Sekunde auf die andere die Augen weit aufriss und vor sich hinstarrte? Die Zwillinge wussten es nicht. Es war, als wäre Helene von einer unsichtbaren Schutzhülle umgeben.
Daka und Silvania versuchten beide, hinter diese Schutzhülle zu gelangen. Die Zwillinge wetteiferten um Helenes Freundschaft. Daka hielt sich dabei an den Rat von Oma Rose, Silvania dagegen an den von Opa Gustav. Besonders weit waren sie damit beide noch nicht gekommen.
Silvania warf Helene in der Geschichtsstunde ab und zu unauffällig einen Blick zu. Doch Helene hing an Herrn Graups Lippen, als wäre er ein Prophet. Schließlich gab es Silvania auf. Sie seufzte leise und spielte gedankenverloren an ihrer Armbanduhr.
Nach dem lebensgefährlichen Absturz im Sportunterricht hatte Silvania sich ein paar Krümel Heimaterde unter die Uhr geklebt. Trotzdem – solange sie ihre Kette nicht wiedergefunden hatte, lebte sie in ständiger Angst vor einer erneuten Ohnmacht. Sie traute den Krümeln unter der Armbanduhr nicht so recht. Mal ganz davon abgesehen, dass eine Kette viel schicker war. Sobald Silvania sich etwas schwach fühlte, leicht schwankte oder sich beim Sprechen verhaspelte, kam Panik in ihr auf. War das der nächste Anfall? Silvania war klar: Das nächste Koma konnte das letzte sein.
Gemeinsam mit Daka hatte sie die Wohnung auf der Suche nach der Kette auf den Kopf gestellt. Sie hatten in jeder Ecke nachgeschaut, unter jedem Schrank, im Katzenklo, sogar im Ofen, in der Mikrowelle und in der Wäschetrommel. Nichts. In der Schule hatten sie am Schwarzen Brett einen Zettel aufgehängt. Aber es hatte sich niemand gemeldet. Vielleicht lag es daran, dass sie als Finderlohn ein Pfund frisches Hackfleisch versprochen hatten. In Bistrien hätte sich dafür jeder Schüler sofort auf den Fußboden geworfen und die Kette gesucht.
Silvania starrte durch Herrn Graup hindurch und bekam nur mit halbem Ohr mit, dass sie die Geschichtsbücher aufschlagen sollten. Sie überflog das Kapitel, dann holte sie die Postkarte von Oma Zezci hervor, die gestern Nacht per Fledermausexpress angekommen war, und sah sie sich zum x-ten Mal an. Auf der Vorderseite der Postkarte war ein tanzender Mann, dessen Rastalocken wie ein Kettenkarussell um ihn herumflogen. Auf der Hinterseite hatte Oma Zezci mit wackeliger Schrift (Mihai Tepes' Mutter war immerhin schon 25.445 Jahre alt) geschrieben:
Hoi!,
erhole mich bestens am jamaikanischen Strand von 13.533 Jahren Ehe. Viele Freunde gefunden: Juan, Eddie, Bruce, Bounty und Bob.
Muss Schluss machen, Bob bringt mir einen Bloody Larry.
Tirili,
eure Oma Zezci
Silvania schnupperte an der Postkarte. Sie roch nach Salz, Sonnencreme und nach Vanilletabak, den Oma Zezci in der Pfeife rauchte. Silvania schloss einen Moment die Augen und versuchte, sich Oma Zezci am Strand in Jamaika vorzustellen. Hatte sie sich gegen die Sonne in den Sand eingebuddelt? Oder ließ sie sich jede halbe Stunde von Bob, Bruce oder Juan neu eincremen? Oder lag sie ganz und gar in ihrem Sarg am Strand? Hoffentlich machte sie der Bloody Larry nicht übermütig. In Jamaika konnte man als Vampir schnell zu Staub zerfallen. Aber Oma Zezci war alt genug, um auf sich aufzupassen. Allerdings auch verrückt genug, um das zu vergessen.
Silvania beschloss, Opa Gobol die Postkarte vorzulesen. Er lag auf der Anrichte im Wohnzimmer im Tonaschenbecher. Bei einem Griechenlandurlaub war er an einer Knoblauchvergiftung gestorben und zu Staub zerfallen. Oma Zezci konnte damals nicht mehr tun, als seine Überreste in ihrem Aschenbecher einzusammeln. Obwohl sie die ganzen 13.533 Jahre Ehe nur gestritten hatten, war Oma Zezci dann doch ganz schön traurig gewesen. Vielleicht, weil sie niemanden mehr zum Streiten hatte. 13.533 Jahre sind eine lange Zeit. Da gewöhnt man sich aneinander.
Silvania war in Gedanken noch am Strand in Jamaika, als es klingelte. Doch aus den Augenwinkeln nahm sie die blitzschnelle Bewegung ihrer Schwester wahr. Daka
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