Eine Freundschaft im Winter
sie fragte sich, wie es sich auswirken würde, wenn sie ihn nun einfach verließ. Konnte ein Mensch so etwas tun? Der Antwort auf seine Gebete den Rücken zukehren? Machte sie gerade den größten Fehler ihres Lebens, weil sie fortfuhr? Erlebte man eine Liebe wie diese zweimal im Leben? Nach über zwanzig Jahren, in denen sie mit Männern zusammen gewesen war und doch die Liebe nicht gefunden hatte, erschien es unwahrscheinlich, dass ihr so etwas noch einmal widerfahren würde. Sie fragte sich, ob es Schicksal war, das nicht geändert werden konnte, oder ob es nur ein Umweg zu ein und demselben Ziel war. Sie hoffte es.
Endlich hatte die Sonne den Schnee auf dem Kopfsteinpflaster zum Schmelzen gebracht. Cassie und Jill gingen mit Amber am Flussufer spazieren, damit die Hündin im Wasser spielen konnte.
In ihrem Rucksack trug Cassie ein Picknick, auf das sie sehr stolz war. Die Zubereitung hatte sie in einer Kochsendung gesehen. Es bestand aus gegrillten Sandwiches mit geschmolzenem Schweizer Käse, Cranberry-Relish und Truthahn.
Während sie am Ufer entlanggingen, hielt Cassie den Blick gesenkt und hoffte, die Stimme ihrer Mutter zu hören.
Jill warf einen Stock in einen kleinen Strudel mitten im schnell dahinströmenden Wasser. Amber musste gegen den Strom schwimmen, um den Stock zu erwischen, aber irgendwie gelang es ihr. Sobald sie es geschafft hatte, wurde sie flussabwärts getrieben, bis sie es irgendwann schaffte, wieder ans Ufer zu gelangen. Sie kam zu ihnen und ließ den Stock fallen.
»Ich hatte schon ein bisschen Angst, sie würde in New Mexico enden«, scherzte Jill. Plötzlich bemerkte sie, dass Cassies Stimmung sich verändert hatte. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie.
Cassie zuckte die Achseln. »Meine Mom und ich sind oft hierhergekommen. Das ist alles.«
»Es ist wunderschön hier«, sagte Jill.
Cassie nickte und zog ein zusammengerolltes Geschirrtuch aus ihrem Rucksack. Die Sandwiches, die sie in Folie gewickelt und dann ins Geschirrtuch eingeschlagen hatte, waren noch warm. Sie reichte Jill eines, und sie machten die Folie ab und bissen hinein.
»Mmh!«, seufzte Jill genießerisch. »Cassie, du bist wirklich begabt. Das schmeckt so lecker! Mir war gar nicht bewusst, wie hungrig ich bin.«
Ein paar Minuten lang aßen sie schweigend weiter, während Jill den Stock noch ein paarmal ins Wasser warf und Amber ihn herausholte.
»Hier hat meine Mom mir gesagt, dass sie krank ist«, sagte Cassie unvermittelt. »Ich habe sie gefragt, ob sie sterben muss, und sie hat geantwortet, dass jeder Mensch mal stirbt. Ich bin wütend geworden und habe sie angeschrien. ›Nicht du!‹ habe ich wieder und wieder geschrien. So lange, bis ich so müde war, dass ich nur noch schlafen wollte. Sie hat mich in den Arm genommen, und dann haben wir einfach nur zusammen dagesessen. Wenn ich mich jetzt daran erinnere, versuche ich zu verdrängen, dass ich sie aus dem Grund angeschrien habe, weil sie krank war. Ich wünschte, ich könnte den Teil löschen und müsste nie mehr daran denken.«
»Ach, Cassie«, erwiderte Jill und wischte sich verstohlen ein paar Tränen ab. »Das bricht mir das Herz.« Sie streckte den Arm aus und strich über Cassies Haar.
Gerade als Amber sich wieder den Stock zu ihren Füßen schnappte, bemerkte Jill einen weißen Stein mit rostroten Strei fen, der wie ein Herz geformt war. »Sieh mal«, sagte sie und reichte ihn Cassie. »Er sieht aus wie ein Herz.«
Cassie nahm den Stein und betrachtete ihn. »Darf ich ihn behalten?«, fragte sie.
»Es ist deiner«, sagte Jill.
»Wusstest du, dass ich herzförmige Steine sammele?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Meine Mom und ich haben damit angefangen.«
Cassie steckte den herzförmigen Stein in ihre Tasche und schlang einen Arm um Jills Taille, während Jill einen Arm um Cassies Schultern legte. Cassie sah das Glitzern auf dem Wasser und dachte über Dinge nach, über die Zehnjährige für gewöhnlich nicht nachdachten – wie zum Beispiel darüber, wie Seelen miteinander verbunden waren.
34. Kapitel
3. Mai: Kein Schneebericht verfügbar
Die Skisaison beginnt am 31. Oktober.
Skipässe können online bestellt werden.
J ill war startklar. Ihre Sachen standen an der Hintertür bereit. Sie hatte Cassie am Morgen Müsli gemacht, statt ihr wie üblich selbst gebackene Muffins zu servieren. Und sobald Cassie zur Schule aufbrach, verschwand sie durch den Hinter ausgang. Sie wollte Mike nicht begegnen. Genauso war sie schon gestern
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