Eine Freundschaft im Winter
lächelte sie beruhigend an. »Ich bin froh, dass du an einem Tag mit frischem Pulverschnee wie diesem Prioritäten setzt. Es ist schön, dich wieder am Berg zu haben, Kleine. Man sieht dich nicht mehr so oft hier oben.«
Cassie zuckte zusammen, doch der Sessel mit ihr schwebte davon, bevor sie eine Antwort geben musste. Während sie über dem Boden dahinglitt, schloss sie die Augen und stellte sich vor, ihre Mutter würde neben ihr sitzen. »Hi, Mom«, sagte sie so leise, dass die Leute auf den Sesseln vor ihr nicht hörten, wie sie mit sich selbst sprach. »Es tut mir leid, dass ich Nancy einen solchen Schrecken eingejagt habe, aber ich musste heute einfach mit dir Ski fahren.«
Oben am Lift wusste sie nicht, welche Abfahrt sie nehmen sollte. Sie hatte eigentlich den Southback hinabfahren wollen, wo sie mit ihrer Mutter allein gewesen wäre, doch jetzt fühlte sie sich ernüchtert, und ihr Herz wog bleischwer. Sie entschied sich für eine Waldstrecke. Ihr Dad hatte ihr zwar verboten, allein über Pisten mit Baumbestand zu fahren, doch dort würde niemand sie sehen. Außerdem würde die Fahrt am Starthaus enden, in dem sie sich verstecken konnte, denn eigentlich hatte sie die Lust am Skifahren schon wieder verloren. Sie stieß sich ab und fuhr los. Sie suchte sich ihren Weg zwischen den Bäumen hindurch, fuhr aber nicht so schnell und waghalsig, wie sie es früher getan hatte. Ihre Reflexe funktionierten nur langsam, und ihr Körper schien aus dem Gleichgewicht zu sein. Sie war nicht mit dem Herzen dabei. Sie stürzte – zum Glück nicht in eine Baumsenke – und blieb einfach eine Zeit lang dort liegen, erledigt, hoffnungslos. Sie starrte in den blauen Himmel, den sie zwischen den Baumwipfeln hindurch erspähen konnte, und fragte sich, ob ihre Mutter sie jetzt sehen konnte. Wahrscheinlich würde es sie traurig machen, wenn sie es könnte, dachte Cassie. Sie erhob sich und tat so, als wäre alles in Ordnung.
Am Ende des Waldstückes kam sie auf die Schneeraupenspur und fuhr hinüber zur Rennstrecke Victory. Sie überquerte die Piste bis hin zum Starthaus, wo Flaggen und Stangen zum Ab stecken des Rennens aufbewahrt wurden. An einem Nagel unter dem Sims fand sie den Schlüssel. Sie machte das Vorhängeschloss auf, nahm es vorsorglich ab, sodass niemand sie einsperren konnte, und trat in die Hütte ein. Sie hoffte, dass ihre Anwesenheit überhaupt niemandem auffiel.
Im Inneren der Hütte standen ein kleiner Tisch und ein Hocker. Auf dem Tisch lag eine Ausgabe von Siddhartha . Sie blätterte durch die Seiten, doch viele der Worte waren ihr unbekannt, und schon bald konnte sie der Bedeutung nicht mehr folgen. Sie verstand nur etwas von einem lachenden Fluss. Nachdenklich legte sie den Kopf auf die Tischplatte und stellte sich die Hand ihrer Mutter auf ihrem Rücken vor. Dann schloss sie die Augen und gab sich wieder einmal dem Gefühl hin, dass das Leben leichter war, wenn sie nicht wach war.
Mike dachte über die Frau nach, die ungefähr in Kates Alter gewesen war und betrunken im Auto von einer Klippe gestürzt war. Sie würde es wahrscheinlich überleben. Er wollte wissen, warum diese mehr oder weniger abkömmliche Person leben würde, während seine Frau es nicht durfte. Er wollte, dass irgendjemand ihm das erklärte. Schweigend fuhr er den Wagen zurück zur Feuerwache.
Ben und John unterhielten sich auf dem Rücksitz über Truthähne und deren Füllung, während Leutnant Pete auf dem Beifahrersitz Informationen für den Bericht zusammentrug.
Mike parkte den Rettungswagen rückwärts auf dem Hof der Feuerwehr, und alle stiegen aus. Er hatte das Einsatzfahrzeug gerade für den Thanksgiving-Umzug zu Ende gewachst, als der Notruf eingegangen war. Jetzt lag wieder ein feiner Film aus Sand und Schlamm auf dem Lack. Schnell wusch er den Wagen noch einmal – ihnen blieben noch zehn Minuten.
Gerade noch rechtzeitig sprangen alle wieder ins Fahrzeug und fuhren in die Innenstadt, wo die Parade sich bereits formierte. Die Organisatoren wiesen ihnen ihren Standort zu. Dort warteten sie eine halbe Ewigkeit, während die anderen Teilnehmer des Umzugs sich hinter ihnen aufstellten. Da es in Sparkle nur eine Feuerwehrwache mit einem Einsatzfahrzeug gab, bildeten sie hinter den Veteranen mit ihren wehenden Flag gen immer die Spitze des Umzugs, falls etwas passierte und sie ausrücken mussten.
Mike sah, wie Becky, Johns Frau, sich den Weg zu ihnen bahnte. Sie hielt das neugeborene Baby im Arm, nahm behutsam sein Händchen
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