Eine Freundschaft im Winter
und winkte ihrem Mann zu. John stieg aus und ging zu ihnen. Mike winkte Becky zu. Sie war inzwischen so etwas wie eine Schwägerin und das Baby wie ein Neffe. Die Feuerwehrmann-Bruderschaft war wie eine Familie. Becky und John in ihrem Familienglück erinnerten ihn an die Jahre, in denen Kate Cassie mit auf die Wache gebracht und er sie während seines Schichtdienstes auf seiner Brust hatte schlafen lassen. Das waren gute Zeiten gewesen.
Er hielt Ausschau nach Cassie und Nancy, aber er konnte sie nicht entdecken. Er checkte sein Handy und fand eine Nachricht von einer unbekannten Nummer auf seiner Mailbox. Er hörte sie sich an. Es war Nancy, die vollkommen aufgelöst berichtete, dass Cassie weggelaufen sei.
Wie in einem Albtraum erinnerte er sich an all die Einsätze, zu denen er hatte ausrücken müssen, weil Kinder Dummheiten gemacht und dabei einen Unfall erlitten hatten oder sogar gestorben waren. Gerade einmal zwei Tage zuvor war er zu einem Einsatz gefahren, weil ein Junge sich hinten an der Stoßstange eines UPS-Trucks festgehalten hatte, um von dem Wagen auf seinem Snowboard durch die Stadt gezogen zu werden. Er war unvermittelt mit seinem Brett auf Schotter geraten und gestürzt, doch sein Arm hatte sich in der Stoßstange verfangen. Der Junge war zwei Blocks weit mitgeschleift worden. Wie dumm war das denn? Der Junge hatte operiert werden müssen. Aber glücklicherweise hatten die Leute auf der Straße geschrien und den Fahrer zum Halten gebracht, ehe Schlimmeres passiert war. Mike wusste, Kids machten Dummheiten. So ziemlich alle von ihnen. Oft waren es die Kinder, von denen man am we nigsten erwartete, dass sie Blödsinn machten. So gab es welche, die kopfüber in flaches Wasser sprangen, mit Feuer spielten, in verlassene und baufällige Häuser einbrachen, aus großer Höhe heruntersprangen, irgendwo hineinkletterten oder betrunken Auto fuhren. Wenn man Glück hatte, verletzten sie sich bloß. Wenn man sehr viel Glück hatte, war die Situation nur miss lich, und sie bekamen Angst. Ein paarmal im Jahr erlebte er jedoch, dass Familien kein Glück hatten.
Und er wusste nicht, was er tun würde, wenn Cassie irgendetwas zustieß. Er wusste es wirklich nicht.
»Meine Tochter ist weggerannt«, sagte Mike zu Pete.
Der runzelte die Stirn. »Musst du los? Wir können den Umzug auch allein bewältigen.«
Die Jungs waren im vergangenen Jahr oft für ihn eingesprungen. Als er Kate zur Chemo gebracht hatte, als er an ihren letzten Tagen zu Hause geblieben war. Sie waren in der ersten Zeit nach ihrem Tod eingesprungen, damit er bei seiner Toch ter hatte sein können. Und sie hatten monatelang die Nachtschicht für ihn übernommen, damit Cassie zu Hause nicht allein war. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Im Moment kann ich sowieso nichts tun. Wenn es dunkel wird und sie noch immer nicht da ist, vielleicht.« Missmutig biss er sich auf die Unterlippe. »Merkst du jetzt, was dir entgeht, Ben?«
Ben war der einzige Junggeselle auf der Wache. »Sieht nach jeder Menge Spaß aus«, erwiderte er.
Pete lachte leise. »Ach, am Ende fügt sich alles zum Besten. Es gibt unzählige Augenblicke, in denen man daran zweifelt, aber am Ende wird doch alles gut. Und eines Tages bist du dann Großvater und siehst befriedigt zu, wie deine Kinder eigene Familien gründen.«
Mike konnte sich nicht vorstellen, wie Cassie eines Tages heiraten und ihn zum Großvater machen würde. Er konnte sich vorstellen, wie sie sich aus einem Helikopter abseilte. Wie sie im Himalaya Trekkingtouren machte. Wie sie bei den X-Games auf Skiern unglaublich hohe Sprünge und Stunts in der Halfpipe machte. Er konnte sich vorstellen, wie sie mit dem Kajak tückische, reißende Flüsse hinabraste. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wie sie als Braut durch die Kirche schritt. Er konnte sie sich nicht schwanger vorstellen. Doch egal, ob er sich nun irrte oder nicht – Kate würde es nicht mehr miterleben. Sie würde ihr Enkelkind nicht mehr in den Armen halten. Sie würde Cassie nicht bei den X-Games erleben. Sie würde all das verpassen, was auch immer »all das« wäre.
»Soll ich Barb anrufen, damit sie sich umhört?«, bot Pete an. Seine Frau Barb hatte die Fähigkeit, innerhalb kürzester Zeit unfassbar viele Menschen zu mobilisieren. Sie brachte Freiwillige dazu, an Haustüren zu klingeln und sich in Einzelgesprächen für den gerechten Einsatz städtischer Abgaben einzusetzen, Sicherheitserziehung in der Schule zu geben oder Geld für
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