Eine Freundschaft im Winter
Er fragte sich, was er im nächsten Sommer mit ihrer Post machen sollte, wenn es zu heiß war, um sie im Kamin zu verbrennen. Vielleicht würde er eine Feuerstelle bauen, damit er sie draußen verbrennen konnte. Oder er würde die Kreditkartenanträge ausfüllen, als Wohnort »Himmel« angeben und abwarten, ob man den Wink mit dem Zaunpfahl verstand.
Er ging in die Küche, schenkte sich einen Scotch ein und nippte daran, während er ein Selbsthilfebuch über Trauer las. Nur eines erreichte das Buch wirklich: Es zeigte ihm, dass er nicht der einzige Mensch auf der Welt war, der diese fürchterliche Verzweiflung durchlebte. Er war nicht der Einzige, der nur seines Kindes wegen durchhielt. Der sich nicht vorstellen konnte, dass es ihm jemals wieder gut gehen würde. Er war nicht der einzige Mensch, der Reue empfand.
Sie hätten ihre Eltern besuchen sollen, nachdem sie umgezogen waren. Er hätte darauf bestehen sollen. Er hätte sich bei der Arbeit freinehmen und Ausflüge mit ihr machen sollen. Sie hatte immer Surfen lernen wollen. Er hätte mit ihr in Konzerte gehen müssen. Sie hatte Vivaldi geliebt, und sie hatte immer gesagt, dass seine Musik sich wie Schnee anhören würde. Wenn er jetzt ihre Vivaldi- CD s laufen ließ, dann konnte er es auch hören. Warum hatte er das vorher nicht gekonnt? Warum hatte er so schnell abgeblockt, wenn ihr etwas so viel bedeutet hatte? Er kannte die Antwort. Der Grund war, dass er geglaubt hatte, noch Zeit zu haben. Viel Zeit zu haben. Tatsächlich hatte er geglaubt, ein unzureichendes Leben zu führen, wenn er nicht machte, was er wollte und was ihm gefiel. Ein Leben voller teurer Urlaubsreisen. Ein Leben voller Vivaldi. Wie dumm er gewesen war.
4. Kapitel
Schneebericht für den 23. November
Aktuelle Temperatur: –1,7 °C, Höchstwert: 0,6 °C um 15 Uhr,
Tiefstwert: –5,6 °C um 4 Uhr.
Gelegentliche Schneeschauer. Wind aus Südwest mit 16 km / h.
79 cm am Berg, 94 cm auf dem Gipfel; 15 cm Neuschnee in den letzten 24 Stunden; 30 cm Neuschnee in den letzten 48 Stunden.
A ls Cassie am Morgen von Thanksgiving aufwachte, konnte sie den Gedanken nicht ertragen, diesen Tag das erste Mal ohne ihre Mutter und stattdessen mit Nancy verbringen zu müssen. Ihr Vater war zu einer weiteren Vierundzwanzig-Stunden-Schicht aufgebrochen. Er konnte es nicht ändern, und das wusste sie.
Nancy musste auch am Feiertag ihrer täglichen Arbeit im Pflegedienst nachgehen. Nachdem Cassie sich angezogen und eine Schale Müsli gegessen hatte, nahm Nancy sie mit zur Ar beit. Der erste Patient war ein sehr großer Mann, der nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt war. Seine Frau hatte nicht genug Kraft, und so kam Nancy täglich zu ihnen, um dem Mann in die Badewanne hinein und wieder herauszuhelfen. Seine Frau wusch ihn.
Cassie wusste, dass das ihre Chance war. Alles, was sie brauchte, war in ihrem Spind in der Skihütte. Sie schlich sich durch die Hintertür aus dem Haus des Mannes und machte sich auf den Weg zum Resort. Sie vermutete, dass ihr zehn Minuten blieben, bis Nancy den Mann in die Wanne gesetzt hatte. Und selbst wenn Nancy gleich danach feststellte, dass sie fort war, könnte sie nicht umgehend nach ihr suchen, weil der Mann erst gewaschen werden musste. Und weil sie sich danach um die anderen alten Leute kümmern musste. An der Skihütte glaubte Cassie, es geschafft zu haben. Aber sie wollte mit dem Sessellift auf dem Weg nach oben sein, ehe Nancy Alarm schlug. Sie zog die Kleidung aus dem Spind, schlüpfte in ihre Skistiefel, griff sich ihren Skipass, den Lawinenpiepser und ihren Helm. Neun Uhr siebenunddreißig. Sie schnappte sich ihre Skier und Stöcke und stürmte nach draußen. Scooter hatte Dienst am Lift, und da er diverse Piercings im Gesicht hatte, glaubte Cassie, dass er ihren Drang zu rebellieren verstand. Sie stieg in die Bindung und glitt zum Einstieg.
»Hey, Cassie. Wie geht’s, wie steht’s?«, fragte Scooter. Er versuchte, so locker zu klingen wie bei allen anderen, doch Cassie konnte es hören. Sie konnte das Mitgefühl hören, das in seiner Stimme mitschwang. Seit dem Tod ihrer Mutter behandelte niemand sie mehr wie vorher. Sie hasste es. Aber sie hätte es auch gehasst, wenn alle sie behandelt hätten, als wäre nichts passiert.
»Hey, Scooter«, erwiderte sie. »Du hast mich nicht gesehen, okay?«
»Hab ich nicht?«, entgegnete er.
»Ich bin vor meinem Kindermädchen geflohen«, gab sie zu. »Bitte hilf mir, dass sie mich nicht zurückholen.«
Er
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