Eine für alle
Angeschossenen. Was ist also der springende Punkt, Warshawski? Du versuchst, einen Fall gegen Diamond Head zu konstruieren, aber er ist nicht wasserdicht - entschuldige den Ausdruck. Ein betrunkener alter Mann schlägt sich den Kopf an und fällt in den Kanal oder wird hineingerollt. Schlimm, aber das heißt nicht, dass jedes Unternehmen in Chicago Männchen vor dir bauen muss, bloß weil du dich darüber aufregst.« Die Schärfe in seinen Worten trieb mir das Blut in die Wangen, und mein Kopf wurde kurz wieder klar. »Stimmt, Finchley. Ich habe heute versucht, dich anzurufen, weil du - nein, das war Rawlings, aber ich nehme an, du weißt darüber Bescheid - weil Rawlings sich bei Frau Doktor Herschel darüber beschwert hat, ich halte was zurück. Hast d u meine Nachricht bekommen?«
Er nickte heftig.
»Ich wollte dir sagen, dass jemand in der Pension war, wo der alte Mann gewohnt hat, und seine ganzen Papiere mitgenommen hat. Der Typ hat behauptet, er ist sein Sohn. Warum hat er das getan? Die Papiere, die ein altes Wrack mit sich herumschleppt, sind wertlos. Und dann, als ich in die Pension zurückkomme, ruft die Vermieterin den Fabrikleiter von Diamond Head an und sagt ihm, dass ich wieder in der Gegend bin. Ich habe gehört, wie die Kerle in der Fabrik das gesagt haben, als ich heute Nacht dort war. Ich weiß, dass ein großer Stahlkonzern ihnen Betriebskapital zuschanzt, und mitten in der Nacht sehe ich, wie Kupferspulen verschwinden, auf denen der Name dieses Stahlkonzerns steht.«
Ich schob mir die Decke von den Augen und wandte mich Rawlings zu. »Und inzwischen ist Eddie Mohr, dem früheren Gewerkschaftsobmann in der Gegend, von Gangstern, die Lotty Herschel fast ins Jenseits befördern, das Auto gestohlen worden. Das ist in Ihrem Revier passiert. Rawlings, wissen Sie noch? Also sagt mir, Jungs, was der springende Punkt ist.«
»Woher wissen Sie, dass es nicht sein Sohn war?« Rawlings ließ alles über Paragon Steel aus und stürzte sich auf das Unwesentliche.
»Ich weiß es gar nicht. Aber der Sohn ist in Arizona aufgewachsen. Er hatte von seinem Vater seit fünfunddreißig Jahren nichts mehr gehört. Finchley hat ihn nicht benachrichtigt. Woher hat er es denn wissen sollen, als er aus heiterem Himmel aufgetaucht ist? Und dazu kommt noch, wie sollte er die Bruchbude finden, die sich Kruger erst eine Woche davor ausgesucht hatte?«
Ich schwieg einen Augenblick, suchte in den Tiefen meines müden Kopfes nach einem wesentlichen Informationsbruchstück. Es tauchte eben auf, als Officer Neely zurückkam und sich über Finchleys Schulter beugte.
Ich wandte mich Rawlings zu. »Wir haben Mitch Kruger am Montag identifiziert. Der so genannte Sohn war am Dienstag bei Mrs. Polter. Selbst wenn jemand den Sohn in Arizona angerufen hätte, wie hätte er so schnell hier sein können?« Falls er nicht schon früher hergekommen war und seinen Vater ermordet hatte.
»Immer mit der Ruhe, Ms. W., immer mit der Ruhe.« Rawlings ging zu Finchley und Neely hinüber.
Während sie redeten, versiegte mein jäher Energieschub. Ich zog mich wieder unter der Decke zusammen. Die Haut auf meinen Armen zitterte vor Erschöpfung. Finchleys schlanke, muskulöse Gestalt war reglos wie eine Statue, wie einer der Buddhas im Kunstinstitut.
Ich hatte die Buddhas zum ersten Mal gesehen, als ich sechs war und meine Mutter mich in die Stadt mitnahm, um mir Meisterwerke der italienischen Renaissance zu zeigen. Sie standen vor der Ausstellungshalle. Ihre Gesichter waren so ruhig, unbewegt und gütig, dass ich sie streicheln wollte. Gabriella verstand nicht, dass sie mich so faszinierten: Wir waren hier, damit ich den Ruhm ihrer Ahnen sah, statt niedere Kunstformen anzugaffen. Der Buddha wurde groß und winkte mir. Ich ließ Gabriellas Hand los und kletterte auf seinen Schoß. Eine kühle Steinhand umfing mich leicht, während seine beruhigende Stimme große Wahrheiten aussprach. »Wenn du erwachst, wirst du dich an alles erinnern, meine Tochter, an alles Wichtige.« Er streichelte mich mit der kühlen Hand und wiederholte die Mantra, bis mir bewusst wurde, dass Rawlings den Arm um mich gelegt hatte und seine tiefe Stimme mich beschwor aufzuwachen.
»Sie müssen ins Bett, Warshawski. In diesem Zustand sind Sie zu nichts nütze. Soll ich Sie nach Hause fahren?«
»Bringen Sie mich in ein Motel«, murmelte ich. »Sie glauben zwar nicht, dass jemand hinter mir her ist, aber sie haben mich heute Morgen gejagt. Gestern Morgen. Fragen Sie
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