Eine ganz andere Geschichte
hocken würde, wenn ich Jurist würde. Ein Job bei der Polizei klang etwas beweglicher.«
»Frische Luft und nette Kumpel?«
»Genau. Gute Pensionsaussichten, wenn man nicht zu früh erschossen wurde.«
»Stimmt das? Ich meine, das mit der Bewegung?«
Gunnar Barbarotti trank einen Schluck Selters und dachte nach. »Man läuft schon häufig zwischen den Stühlen hin und her.«
Sie lachte und streckte die Füße hinauf zur belaubten Krone der Eiche. Wippte genüsslich mit den Zehen. »Du solltest es wie ich machen«, sagte sie.
»Und wie?«
»Die Stühle wegnehmen. Ich stehe fast den ganzen Tag.«
»Hm«, sagte Gunnar Barbarotti. »Und dass du Hebamme werden wolltest, das wusstest du natürlich schon im Gymnasium?«
»In der Oberstufe«, korrigierte Marianne. »Da kam eine Hebamme aus dem Krankenhaus zu uns und erzählte von ihrer Arbeit. Ich habe mich noch am selben Tag entschieden.«
»Und du hast es nie bereut?«
»Manchmal schon, wenn es schiefgeht. Wenn das Kind tot ist oder richtig schwer behindert. Aber das geht vorüber, man begreift, dass das dazugehört. Nein, ich habe es nie wirklich bereut. Ich habe das Gefühl, dass es ein Privileg ist, dabei zu sein, wenn ein Leben beginnt, das wird irgendwie nie richtig Routine. Und mit Abtreibungen verschonen sie mich meistens. Ansonsten ist es das, was am schwierigsten ist.«
Gunnar Barbarotti verschränkte die Hände im Nacken. »Wäre zu meiner Schulzeit ein Polizist gekommen und hätte von seiner Arbeit erzählt, dann wäre ich etwas anderes geworden«, stellte er fest. »Aber es ist schon gut, dass Fragen von Leben und Tod nie zur Routine wer
den, da hast du recht.«
»Und was wärst du gern geworden? Eigentlich?«
Er lag lange Zeit schweigend da und lauschte dem Hummelsummen. Dachte wirklich nach.
»Ich weiß es nicht. Ich habe den Verdacht, dass ich zu alt bin, um noch etwas anderes zu lernen. Also müssen sie mich weiterhin ertragen. Obwohl ich mir vorstellen könnte, hier in dieser Gegend einen Überlandbus zu fahren.«
»Einen Bus?«
»Ja. Einen eigenen, gelben Überlandbus mit durchschnittlich elf Passagieren am Tag. Eine Tour morgens und eine nachmittags. Die Thermoskanne mit Kaffee am Wendeplatz an einer blühenden Wiese … ja, so etwas in der Art.«
Marianne strich ihm mit den Fingern über die Wange. »Du armer, müder, mittelalter Mann«, sagte sie. »Vielleicht solltest du für ein paar Tage bei Hagmund in die Schule gehen?«
»Keine dumme Idee«, murmelte Gunnar Barbarotti. »Weißt du, ob sie einen Knecht brauchen?«
Plötzlich merkte er, dass er wirklich müde war. Mit einem Mal war es fast unmöglich, die Augen offen zu halten – das tiefe Grün der großen Eiche, die sich im schwachen Wind bog, hatte offenbar die Absicht, ihn in den Schlaf zu wiegen.
Und Mariannes Hand, die sich auf seinem Brustkorb zur Ruhe gelegt hatte, schob ihn vorsichtig, aber unerbittlich in die gleiche Richtung. Letzte Nacht hatte er nicht viele Stunden Schlaf gehabt, wie er zugeben musste, also hatte es nicht … es hatte wirklich nichts mit dem Alter zu tun, nur dass das klargestellt war, bevor er einschlief.
»Dieser Brief da«, war das Letzte, was er sie reden hörte. »Du bist doch auch der Meinung, dass es zumindest etwas unangenehm ist, oder? Schläfst du?«
Er träumte von Kommissar Asunander.
Soweit er sich erinnern konnte, hatte er das noch nie getan, und er begriff auch jetzt nicht so recht den Sinn der Sache. Asunander sah genau aus wie immer. Die Augen dicht zusammenstehend, er war klein, dünn und gehässig, es war nur merkwürdig, dass er eine Reitpeitsche in der einen Hand hielt und eine Taschenlampe in der anderen. Und er war wütend, lief in einem großen Haus umher, das Barbarotti mal vollkommen unbekannt erschien, mal umso bekannter – dann erinnerte es nicht wenig an das Polizeirevier von Kymlinge. Deutlich war auf jeden Fall, dass Asunander nach etwas suchte, es gab reichlich Nischen und dunkle Erker, deshalb war er mit einer Taschenlampe ausgerüstet. Die warf schräge Lichtbündel in die Gänge, in denen sein eigener Schritt widerhallte, und die grotesk gedrehten Wendeltreppen hinauf wie auch durch feuchte, tropfende Kellergewölbe. Lag ich nicht eben noch unter einer Eiche auf Gotland?, fuhr es Barbarotti durch den Kopf, und im gleichen Moment begriff er, dass er tatsächlich auch im Traum auf dem Rücken lag, aber nicht unter irgendeiner Eiche bei einem friedlichen Landfriedhof, sondern unter einem Bett in einem dunklen
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