Eine ganz andere Geschichte
einer Gelegenheit sprang sie ihm in die Arme und gab ihm einen Kuss auf den Mund.
»Pass auf«, sagte Anna mit einem angestrengten Lachen. »Dieses Kind ist vielleicht älter, als du dir einbildest.«
Dann versuchte sie auf die gleiche Art in Gunnars Arme zu springen, aber dieser war offensichtlich nicht auf den Angriff vorbereitet, und die beiden purzelten in den Sand. Troaë schrie vor Begeisterung, warf sich über sie, und es entstand ein unkontrollierter Ringkampf, der eine Weile dauerte. Selbst Henrik nahm an dem Durcheinander teil, nur ich selbst hielt mich ein wenig auf Distanz.
Als dann alle wieder auf den Beinen standen, lachten und keuchten und sich den feinkörnigen Sand abbürsteten, erklärte das Mädchen, die Schweden müssten ja wohl das lustigste Volk der Welt sein, und wir könnten sie gern adoptieren.
»Dann muss ja wohl deine Oma erst einmal ein Papier unterschreiben«, bemerkte Katarina. »Nein, jetzt kein Ringkampf mehr, wir wollen essen und Wein trinken.«
Den ersten Satz sagte sie auf Französisch, den zweiten auf Schwedisch und war so gezwungen, in beide Richtungen zu übersetzen.
»Damit wäre meine Oma sicher einverstanden«, erklärte Troaë und sah für einen Moment plötzlich ganz ernst aus. »Sie findet, ich bin schlecht erzogen und viel zu laut.«
Sie klammerte sich wieder an Eriks Arm, und wir gingen weiter zum Le Grand Large.
Zwei Stunden lang aßen wir Schalentiere und tranken weißen Wein. Es war ein merkwürdiges Gefühl, da unter den hellblauen Sonnenschirmen in dieser großen, polternden Gruppe zu sitzen – jetzt auch noch um einen Wildfang von Mädchen erweitert –, als handle es sich um eine Art von ganz natürlicher Gemeinschaft. Mir ging auf, dass ich Erik seit ungefähr fünf Tagen kannte, die übrigen Schweden seit einem und das Mädchen seit ein paar Stunden. Und dennoch saßen wir da, aßen und tranken und plapperten miteinander, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen. Ich weiß noch genau, dass Doktor L mich ermahnt hat, nicht alles in Frage zu stellen, als wir die Behandlung beendeten und uns voneinander verabschieden wollten, und ich kann ihm zustimmen, dass das ein Faktor meines Problems ist – aber gerade hier im Le Grand Large an diesem windigen Nachmittag hatte ich das Gefühl, dass mein Zögern eine gewisse Berechtigung hat. Wer waren diese Menschen eigentlich?
Wer sind diese Menschen eigentlich?, sollte ich natürlich schreiben. Wie bin ich in diese Gemengelage geraten? Was hatten wir überhaupt miteinander zu reden, als wir dort saßen und in Schnecken, Krebsen und Muscheln herumstocherten und kalten weißen Wein in uns hineinschütteten? Was bildeten wir uns eigentlich ein? Während ich das schreibe, ist es später Abend, ich sitze mit Stift und meinem dicken Notizblock draußen auf der Terrasse, genau wie gestern. Erik schläft im Haus, oder er liegt und liest, nein, ich glaube, er hat zu viel Wein getrunken, um lesen zu können. Überhaupt ist er kein Buchmensch.
Er ist nicht dumm, aber er liest nicht. Wieder überlege ich, ob ich von hier fortgehen sollte, aber eine Art Trägheit der Situation an sich hält mich zurück. Die Landschaft sagt mir zu und hält mich auf ihre Art und Weise fest. Die Hitze und das Flache. Die Dünen, die niedrigen, halb versteckten Steinhäuser und das Meer, hier gibt es viel Platz. Vielleicht auch einen Moment der Spannung, etwas Unvorhersehbares, das ich nicht richtig zu fassen bekomme; ich habe das Gefühl, als ruhe etwas bei den Menschen hier unter der Oberfläche, etwas, das darauf wartet, ans Tageslicht zu kommen, ich kann mich dieses Eindrucks nicht erwehren. Als brauchten sie sich auf irgendeine Art gegenseitig, als genügte die Zweisamkeit nicht, ganz besonders ist das natürlich bei Gunnar und Anna zu merken, sie richten nur selten die Aufmerksamkeit aufeinander, sind die ganze Zeit auf der Jagd nach Zustimmung und Bestätigung von uns anderen – sogar von der kleinen Troaë. Ich bin mir natürlich nicht sicher, was diese Beobachtungen eigentlich wert sind, ich bin es nicht gewohnt, in dieser Form unter Menschen zu verkehren, und es gibt offensichtlich eine äußerste Grenze, eines Tages werde ich es nicht länger ertragen. Ganz einfach.
Troaë saß die ganze Zeit mit am Tisch, trank ihre Coca Cola, aber auch ein Glas Wein, verdünnt mit Wasser, behauptete, das sei ihr normales Getränk bei den Mahlzeiten sowohl in Paris als auch bei der Großmutter in Fouesnant. Sie gab sich wirklich alle Mühe,
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