Eine ganz andere Geschichte
Wollte nur ihre Stimme hören. Hätte sie ein eigenes Telefon gehabt, dann hätte er sie den ganzen Abend bei sich im Auto gehabt, das wusste er, aber dem war ja nun nicht so.
Nun ja, ihre Kinder würden zumindest ein Nottelefon im Gepäck haben, wenn sie am Donnerstag kamen, das hatte sie versprochen; manchmal war man gezwungen, von bestimmten Regeln abzuweichen, und er musste sich wohl oder übel damit zufriedengeben.
Durfte stattdessen seine Gedanken der gestrandeten Mordermittlung widmen.
Dem briefeschreibenden Mörder.
Es war schon merkwürdig. Gelinde gesagt.
Mordermittlungen gab es ab und zu in Kymlinge. Ein paar Mal im Jahr. Die meisten waren relativ unkompliziert, wie schon gesagt. Meistens hatte man den Täter/Säufer nach einem oder ein paar Tagen eingekreist. Richtige Mordermittlungen waren die Ausnahme. Drogen oder Alkohol spielten in neun von zehn Fällen eine gewichtige Rolle, die Betreffenden waren ebenso oft bereits polizeibekannt. Und die Lösung des Falles ergab sich so gut wie immer als Resultat zielbewusster Polizeiarbeit gemäß den Routinen. Wenn man die kannte, brauchte man eigentlich nicht mehr zu denken. Zumindest behauptete Inspektorin Backman das gern. Es erfordert mehr Intelligenz, eine Kinokarte übers Internet zu kaufen, als einen Mörder dingfest zu machen, hatte sie bei irgendeiner Gelegenheit behauptet.
Dieses Mal hatte sie gesagt, sie habe nicht die geringste Ahnung. Das verheißt nichts Gutes, dachte Barbarotti. Absolut nichts Gutes.
Obwohl doch der Mörder schriftlich mitgeteilt hatte, wer sein Opfer werden sollte. Rechtzeitig. Sie hatten eine Woche Zeit gehabt, Erik Berg-man vor seinem Mörder zu schützen. Was ihnen nicht gelungen war.
Sie hatten es nicht einmal versucht.
Gunnar Barbarotti hoffte, dass gerade dieser Gesichtspunkt nicht an die Presse gelangen würde. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, welche Überschriften dies zustande bringen würde.
Es war Asunander, der die Entscheidung getroffen hatte, vielleicht gemeinsam mit Staatsanwalt Sylvenius, aber, wie gesagt, Barbarotti warf es ihnen nicht vor. Er hätte die gleiche Entscheidung getroffen. Hätte man genau gewusst, von welchem Erik Bergman die Rede war, hätte man vielleicht anders handeln können. Vermutlich hätte man in so einer Situation mit ihm Kontakt aufgenommen und versucht, gemeinsam mit ihm die Drohung zu analysieren. Im Nachhinein war es leicht zu sagen, dass man es auch in diesem Falle hätte tun müssen, aber es war immer leicht, Dinge im Nachhinein zu beurteilen.
Aber es war auch nicht das Verhalten der Polizei, das Barbarottis Gedanken in dieser regnerischen Nacht beschäftigte. Ganz im Gegenteil. Es war das Verhalten des Täters.
Was schon sonderbar war. Warum? Warum um alles in der Welt schreibt man einen Brief und nennt den Namen des geplanten Opfers?
Und warum wurde der Brief an ihn geschickt? An Kriminalinspektor Gunnar Barbarotti? An seine Privatadresse?
War es nur als Scherz gedacht? Bedeutete es eigentlich gar nichts? Oder kannte er Barbarotti?
Und – logischer Schluss – war es etwa so, dass Barbarotti den Mörder kannte?
Auf keine dieser Fragen hatte er eine einigermaßen passable Antwort gefunden, als er endlich in der Baldersgatan vor seiner Wohnung hielt. Er war nicht einmal in die Nähe einer passablen Antwort gekommen. Es war zwanzig vor eins, der Regen hatte vor einer halben Stunde aufgehört, aber die Straßen glänzten auch in Kymlinge nass.
Da es nach Mitternacht war, schrieb man folglich jetzt den 1. Au gust, das war der Geburtstag seiner früheren Ehefrau, und die ganze Stadt schien verdunkelt zu sein wie vor einem zu erwartenden Luftangriff. Warum ausgerechnet diese beiden Überlegungen in seinem Kopf zusammenstießen, konnte er selbst nicht so recht begreifen, aber als er den Schlüssel ins Schloss steckte, erinnerte er sich an die Metapher des patiencelegenden Herren. Außerdem spürte er, dass er todmüde war – nahm sich aber dennoch die Zeit, den Haufen von Zeitungen, Post und Reklame zu sortieren, der sich angesammelt hatte und den halben Fußboden in seinem engen Flur bedeckte.
Er sortierte alles ordentlich in drei Stapel auf dem Küchentisch, und als er eilig die Briefe durchblätterte, die in seiner einwöchigen Abwesenheit eingetrudelt waren, verschwand die Müdigkeit. Verflog im Bruchteil einer Sekunde.
Er war geistesgegenwärtig genug, eine Plastiktüte über die linke Hand zu streifen, bevor er den Umschlag mit einem Küchenmesser
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