Eine ganz andere Geschichte
in seinem Auto und starrte hinaus in den Regen.
Es war Mittwochabend. Der Wetterumschwung hatte während der frühen Nachmittagsstunden eingesetzt, eine Wolkenbank war von Südwesten her angewachsen, hatte die ersten schweren Tropfen kurz nach zwei Uhr fallen lassen, und innerhalb einer halben Stunde hatten sich die dunklen Wolken über das gesamte Himmelsgewölbe von einem Horizont zum anderen ausgebreitet. Seitdem hatte es geregnet – beharrlich und ausdauernd, wenn auch nicht besonders kräftig, und die Temperatur war von fünfundzwanzig auf fünfzehn Grad gefallen.
Das war angenehm, wie Gunnar Barbarotti fand. Man bekam wieder Luft, zumindest, wenn man das Seitenfenster auf der Beifahrerseite ein paar Zentimeter heruntergekurbelt hatte. Wenn er es recht überlegte, so war das eigentlich auch das einzig Positive, was über die momentane Lage zu sagen war.
Dass es möglich war zu atmen. In den letzten drei Tagen hatte er hinsichtlich der Ermittlungen und seiner Arbeit eine zunehmende Hilflosigkeit empfunden, und die Worte, die er Marianne gegenüber hatte fallen lassen, wonach er überlege, den Beruf zu wechseln, kamen ihm in regelmäßigen Abständen immer wieder in den Sinn.
Als würde sich die Waagschale seines Lebens gerade in diesem Sommer entscheiden.
Die Waagschale seines Lebens? Das klang ein wenig defaitistisch, sicher, aber er ahnte, dass er ihn im Rückblick so betrachten würde. Den Sommer 2007. Ich fasste diesen und jenen Entschluss, und dann kam es so, wie es kam.
Er ahnte auch, dass das Leben genau so aussah, dass es um diese Struktur ging. Lange Strecken von Routine und Schlendrian, im Guten wie im Bösen, und dann plötzlich Portale, die sich öffneten und die Möglichkeit boten, einen Weg zu wählen. Und wenn man sich nicht rechtzeitig entschied, dann wurden die Tore geschlossen. Sich nicht zu entscheiden war auch eine Wahl.
Aber vielleicht waren das nur Gedanken, die gut zum Regen passten.
Jetzt saß er auf jeden Fall hier und bewachte dieses Haus. Er hatte selbst darum gebeten, freiwillig diesen ziemlich trivialen Auftrag übernommen, nur um eine Weile wegzukommen. Backman hatte ihm einen leicht fragenden und leicht mitleidigen Blick zugeworfen, aber nichts gesagt. Wie üblich durchschaute sie ihn, und er musste zugeben, dass er dankbar dafür war. Dass sie diesen speziellen Mutterblick hatte, den gewisse Frauen halt haben und der bedeutet, dass es sich gar nicht lohnt, ihnen etwas vormachen zu wollen.
Aber vielleicht idealisiere ich ja auch nur, dachte er. Vielleicht ist es nur so, dass gewisse Männer so einen Mutterblick brauchen, und deshalb erfinden wir ihn und schieben ihn bestimmten Frauen unter, die diese Illusion allem Anschein nach aufrechterhalten können? Vielleicht war es mit Marianne das Gleiche?
Was meinte er eigentlich mit ›gewisse Männer‹?
Auf jeden Fall habe ich das Bedürfnis, über andere Dinge nachzudenken als über diesen briefeschreibenden Wahnsinnigen, stellte er fest und schob sich zwei Kaugummistücke in den Mund, um wach zu bleiben. Bereits als er vor einer Stunde zwischen den gestutzten Linden geparkt hatte, hatte er den Herrgott gebeten, es möge nichts passieren, er solle ihn bitte ein paar Stunden in Ruhe und Frieden einfach nur dasitzen lassen, damit er nach wohlverrichteter Tat wieder abfahren und eine Nacht ungestörten Schlafs bekommen könne. Er war sich sicher, er könnte zwölf Stunden am Stück schlafen, wenn er nur die Gelegenheit dazu bekäme. Vielleicht sogar vierzehn.
Ein Punkt?, hatte der Herr gefragt. Ein Punkt, hatte Barbarotti bestätigt.
Er hatte zehn Minuten mit Marianne gesprochen, und vielleicht war es eigentlich dieses Gespräch, das ihn am meisten bewegte. Ja, sollte er es wagen, den Dingen ehrlich in die Augen zu sehen, dann war es wohl dieses Gespräch, das ihn wachhielt. Mehr als die Kaugummistückchen. Sie hatte nämlich ein wenig abwesend geklungen, unkonzentriert, er fragte sich, ob es wohl irgendwelche Konflikte mit den Kindern gab.
Er hoffte, dass dem so war, dass nicht er der Grund für diese Distanz war. Aber am merkwürdigsten – oder zumindest ebenso beunruhigend – war die Tatsache, dass er sich selbst während des Gesprächs auch wie abwesend gefühlt hatte. Das hat mit der sinnlosen Arbeit der letzten Tage zu tun, dachte er. Durch sie waren ihm die primärsten Funktionen und Bedürfnisse verloren gegangen. Liebe, Zärtlichkeit und Sehnsucht. Nur ein Hohlraum war geblieben, ein Loch.
Und das Loch wurde mit
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