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Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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nichts Henrik in die Finger«, sagte Katarina.
    Wir zwängten uns in die enge, dunkle Kajüte, Gunnar wendete und gab Gas. Es war zu hören, dass tatsächlich etwas mit dem Motor nicht stimmte, das Geräusch war tief und dumpf, auf dem Hinweg war es hoch und schrill gewesen. Wir fuhren schräg zu den Wellen, und sie schlugen kräftig gegen das Boot, wir waren gezwungen, uns etwas nach vorn zu beugen und festzuhalten, um nicht mit dem Kopf an die niedrige Decke zu schlagen. Auch wenn das veränderte Motorengeräusch es eigentlich möglich gemacht hätte, sich zu unterhalten, gab es niemanden, der die Gelegenheit nutzte. Hoch und runter, hoch und runter, nach wenigen Minuten spürte ich, wie mir übel wurde, meine Kopfschmerzen hatten sich die letzte Stunde bedeckt gehalten, aber jetzt schlugen sie wieder mit erneuter Kraft zu. Und ich bin mir sicher, dass es keinem der anderen sehr viel besser ging. Ich saß eingezwängt zwischen Henrik und Erik. Anna, Katarina und das Mädchen zwängten sich auf der anderen Seite des Tisches zusammen, um den sich jetzt sechs Paar Hände klammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten.
    Hoch und runter. Hoch und runter. Das Motorengeräusch nahm zu und nahm ab im Takt mit den Wellen. Hin und wieder gab es einen heftigen Schlag, wenn wir nach einer etwas höheren Welle im Wellental landeten. Meine Übelkeit nahm langsam Fahrt auf, ich begann meine Atemzüge zu zählen, zählte das monotone Pochen des Pulses in meinen Schläfen, schloss die Augen und wünschte, ich hätte diese Menschen am ersten Tag in Bénodet tatsächlich umgebracht. Dass ich ein einziges Mal die Gedanken in die Tat umgesetzt hätte.
    Plötzlich erstarb der Motor. Gunnar tauchte unten in der Kajüte auf, seine tropfnasse Gestalt füllte die gesamte Öffnung zur Plicht aus, es wurde rabenschwarz. »Verdammte Scheiße!«, schrie er. »Er ist wieder stehen geblieben! So eine Kacke!«
    Das Schlingern nahm zu. Wir rollten jetzt von einer Seite auf die andere, hoch und runter, hoch und runter, aber da wir zu sechst in einem Raum saßen, der offenbar für vier gedacht war, klemmten wir fest und blieben auf unseren Plätzen.
    »Was machen wir?«, fragte Gunnar. »Ich habe kein Gefühl mehr in den Händen!«
    »Wie weit ist es noch bis zum Land?«, schrie Anna. Es gab keinen äußeren Grund zu schreien, nur einen inneren.
    »Mindestens eine halbe Stunde«, sagte Gunnar. »Aber ohne Motor treiben wir nicht an Land. Es weht aus Nordwest, wenn wir nicht kentern, werden wir … ja, was weiß ich, nach La Rochelle oder wohin getrieben.«
    »Kannst du nicht versuchen, noch einmal zu starten?«, fragte Anna.
    »Denkst du, ich habe es nicht versucht?«, entgegnete Gunnar wütend. »Ich habe einfach kein Gefühl mehr in den Fingern. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass mal jemand anders Einsatz zeigt.«
    Das Boot rollte heftig, Gunnar schlug mit dem Kopf gegen den Türpfosten und fluchte laut.
    »All right«, sagte Erik. »Ich gehe hoch und guck mir das mal an.«
    Er drängte sich an Gunnar vorbei, der sich rechts von mir stöhnend niederließ. »So eine Scheiße. Wir haben nicht einmal Rettungswesten. Wie kann man nur ein Boot ohne Rettungswesten vermieten?«
    »Versteht Erik überhaupt etwas von Bootsmotoren?«, fragte Katarina. »Henrik, solltest du nicht lieber …«
    »Ich bin zu besoffen«, sagte Henrik. »Sorry, aber ihr, die uns die Suppe eingebrockt habt, müsst das jetzt selbst auslöffeln.«
    Annas geballte Faust schoss wie ein Kolben über den Tisch. Sie landete irgendwo in Henriks Gesicht, ich fand es bewundernswert, dass es ihr mitten in dem Rollen und in der Dunkelheit gelungen war, ihn mit so einer Präzision zu treffen.
    »Was soll das denn?«, schrie Henrik. »Du verfluchte kleine Schlampe!«
    »Bleibt ruhig, verdammt noch mal!«, brüllte Gunnar. »Jetzt reißt euch zusammen und beruhigt euch wieder!«
    Ich hatte das Gefühl, dass wir einen bestimmten Punkt erreicht hatten. Die dünne Schicht von Zivilisation war von diesen Menschen abgefallen, die Normalität war verschwunden, eine Art roher Naturzustand hatte sich eingestellt, und die Sprache wurde nicht mehr als Kitt verwendet, sondern als Waffe. Das Boot rollte heftig, und Troaë begann zu weinen.
    Mindestens eine Stunde verging. Wir saßen unten in der engen, dunklen Kajüte zusammengezwängt und wurden von dem aufgewühlten, regengepeitschten Meer hin und her geworfen. Niemand sagte etwas, abgesehen von vereinzelten Flüchen, das Mädchen schluchzte ab und

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