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Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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zu, Erik und Gunnar lösten sich an dem toten Motor ab, manchmal versuchten sie es auch gemeinsam. Henrik oder mich baten sie kein einziges Mal um Hilfe. Meine Kopfschmerzen kamen und gingen, mit der Übelkeit war es im Großen und Ganzen ebenso. Ich zählte meine Atemzüge und meinen Puls und dachte über das Schweigen nach, warum eigentlich niemand etwas unter diesen Umständen zu sagen hat te. Warum niemand versuchte, seine Menschlichkeit zurückzugewinnen. Vielleicht lag es daran, dass die Situation, in der wir uns befanden, unser aller Vorstellungsvermögen überstieg. Uns stumm, handlungsunfähig und tierisch verängstigt machte. Ich selbst sagte auch nichts, aber das ist meine natürliche Strategie. Vielleicht saßen ja alle da und bildeten sich ein, dass wir sterben würden, vielleicht war es die Einsamkeit vor diesem äußersten Augenblick, mit der jeder Einzelne versuchte, ins Reine zu kommen. Nach eigenem Belieben und eigenem Vermögen und in der zunehmenden kalten Dunkelheit des Rausches.
    Ich hatte gerade gemerkt, dass es Henrik zu meiner Linken gelungen war, einzuschlafen, als Katarina Malmgren mich auf das Mädchen aufmerksam machte.
    »Sie muss sich übergeben«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich …?«
    »Ich gehe mit ihr«, sagte ich.
    Katarina sagte etwas zu Troaë, und das Mädchen nickte. Stöhnte leise und streckte quer über den Tisch ihre Hand zu meiner aus. Ich ergriff sie, und wir kletterten die vier Stufen zur Plicht hinauf. Der Regen peitschte immer noch, aber ich hatte den Eindruck, als wären die Wellen etwas sanfter geworden. Weit in der Ferne konnte man Lichter vom Land sehen, und daraus schloss ich, dass wir trotz allem ungefähr in die richtige Richtung trieben. Auf jeden Fall waren wir nicht auf dem Weg hinaus aufs Meer. Wenn wir nur nicht kenterten, würden wir wahrscheinlich in einer oder einigen Stunden festen Boden unter den Füßen haben. Oder an irgendwelchen Klippen zerschellen. Erik klammerte sich an dem toten Motor fest, sie hatten die obere schwarze Plastikkappe abgenommen und das Motoreninnere entblößt. Ich dachte, dass der einzige Erfolg dieser Aktion wahrscheinlich darin bestand, das alles vom Salzwasser, was darüber spülte, kaputt gemacht wurde. Troaë begann zu würgen, ich half ihr zur Reling, hielt sie mit meiner rechten Hand fest, während sie sich übers Wasser beugte und erbrach. Ich erkannte, dass wir die falsche Seite genommen hatten, sie spuckte direkt gegen den Wind, und der klebrige Schleim wurde zurück an Bord geworfen. Sie schluchzte und würgte und schrie etwas, was ich nicht verstand; es klang nicht französisch, sondern wie eine ganz andere Sprache.
    Plötzlich fuhren wir über einen Wellenkamm, und das Gleichgewicht verschob sich. Ich wäre fast vornüber gefallen, über Bord, tastete vergeblich mit meiner freien Hand, um einen sicheren Halt zu finden, fand aber nichts. Um Troaë nicht im Fall mitzureißen, ließ ich ihre Hand los und konnte im nächsten Moment am Stag des Verdecks Halt finden. Ich fand mein Gleichgewicht wieder, begriff aber im gleichen Moment, dass mein Manöver schiefgegangen war. Das Mädchen schrie auf, ruderte eine Sekunde lang mit den Armen in der Luft und fiel über Bord.
    Ich rief nach Erik. Ich weiß nicht, was ich rief, aber Erik hatte natürlich den ganzen Unfall mit angesehen, er schrie etwas, stand auf und starrte in die Wellen. Troaë war plötzlich im Wasser zu sehen, ihr Kopf und die wild rudernden Arme, aber sie war bereits zwei, drei Meter vom Boot entfernt.
    »Ein Seil!«, schrie Erik. »Wirf ein Seil raus!«
    Ich schaute mich in Panik um. Es gab kein Seil, keinen Rettungsring. Das Mädchen schrie und verschwand unter Wasser. Erik fluchte und brüllte den anderen unter Deck etwas zu. Ich kletterte um das Verdeck und zog mich auf dem Deck vorwärts, das Boot schlingerte heftig, aber es gelang mir, mich an Seilen und Stag festzuhalten. Ich schaute mich verzweifelt nach irgendeiner Art von Hilfsmittel um, ich wusste nicht, was, während ich gleichzeitig versuchte, das Mädchen wieder zu entdecken. Nach einigen Sekunden tauchte sie erneut auf, winkte mit den Armen und rief, dieses Mal keine Worte, nur einen unartikulierten, dumpfen Laut, der aus ihrer Kehle kam. Scheiße, dachte ich, sie kann nicht einmal schwimmen! Ich sah, wie Gunnar und Katarina in die Plicht heraufkamen, dort standen, gestikulierten und brüllten.
    Eine Sekunde zögerte ich noch, dann warf ich mich ins Wasser. Stieß mir den rechten Fuß an

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