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Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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sein Puls hämmerte wie eine MP. Hundert, hundertzehn wahrscheinlich.
    Hoľs der Teufel, dachte er. Das war das.
    Und jetzt soll ich also anfangen, den Mörder aus meinem Gedächtnis zu fischen. Was für ein Tag.
    Er stolperte über eine Wurzel und wäre fast in einen Sanddornbusch gefallen.
    Er tat, wie sie ihn geheißen hatten, Jonnerblad und Tallin. Begann mit dem Anfang. Schrieb einen Namen nach dem anderen in seinen Notizblock, es war eine merkwürdige Beschäftigung, eine Art Buße fast oder ein Rechenschaftsbericht vor Petrus am Jüngsten Tag.
    Ihm und ihm habe ich auf meiner Wanderung auf Erden übel mitgespielt. Mit ihm und ihr und ihm bin ich nie zurechtgekommen, vielleicht haben sie seitdem einen Kieker auf mich … ja, seit der Jugend. Oder seit dem Studium in Lund. Oder der Polizeihochschule. Oder bei der Arbeit … dieser geigenspielende Bodybuilder hinten in Pampas, dieser Drogenhändler, dieser faschistische Gewalttäter …
    Sonderbar, wie gesagt, aber die Personen tauchten auf, meldeten sich mit Gesicht, Namen und besonderen Umständen vor seinem inneren Auge, eine nach der anderen. Allein aus den Jahren im Gymnasium, aus dieser unruhigen Gemeinschaftskundeklasse in der Katedralskolan zog er sechs Namen heraus – außerdem noch zwei Lehrer, nicht, weil er sich ernsthaft vorstellen konnte, dass einer von ihnen so verrückt geworden sein könnte, sich hinzusetzen, einen Brief zu schreiben und dann Leute am laufenden Band umzubringen. Aber die Methode – Jonnerblads und Tallins Methode – beinhaltete ja, dass er zunächst alle mit einbeziehen sollte, von denen er in irgendeiner Weise das Gefühl hatte, dass sie ihn nie gemocht hatten. Nicht nur die, mit denen er aus irgendeinem Grund offen Streit gehabt hatte, sondern auch alle anderen, Menschen, die er verdächtigte, dass sie – unter gewissen, maximal pervertierten Umständen – möglicherweise dazu in der Lage waren.
    Leif Barrander, mit dem er sich in der vierten Klasse geprügelt hatte.
    Henrik Lofting, der ihm in der Fünften ins Gesicht gespuckt hatte, weil er getunnelt und ihn danach verhöhnt hatte, als sie im Sport Fußball spielten.
    Johan Karlsson, der in der Siebten und Achten gemobbt wurde und versuchte sich an seinen Plagegeistern zu rächen (Barbarotti hatte nicht dazu gehört, aber er war Teil der schweigenden, feigen Mehrheit gewesen), indem er sich selbst in Brand steckte. Es war ihm nicht gelungen, sich auf diese Weise das Leben zu nehmen, aber die Wunden in seinem Gesicht sollten nie heilen.
    Oliver Casares, dem er sein Mädchen Madeleine bei einer Skiwoche im Gebirge ausgespannt hatte. Zumindest glaubte Oliver, dass es sich so zugetragen hätte, während in Wirklichkeit Madeleine ganz freiwillig gekommen war.
    Und all die anderen. Man sollte nicht glauben, dass man so viele potentielle Feinde hat, dachte Gunnar Barbarotti. So eine Inventur sollte jeder Mensch einmal machen. Und richtig schlimm war man ja wohl nicht gewesen? Nicht schlimmer als die anderen? Oder?
    Als er nach gut einer Stunde an der Mühle von Ulme angekommen war, machte er eine Pause und zählte seine Liste. Zweiunddreißig Namen. Ein halbes Schachbrett voll, und dabei hatte er noch fünfzehn Jahre aktiven Polizeidienst vor sich. Er würde ohne Probleme auf die fünfzig kommen, die Jonnerblad und Tallin ihm auferlegt hatten.
    Er aß einen Apfel und trank einen halben Liter Wasser. Blieb eine Weile sitzen, lehnte sich gegen die raue Mühlenwand und lauschte dem rauschenden Wasser, es war nicht mehr viel übrig nach dem langen, trockenen Sommer, nicht mehr als ein Rinnsal, aber es war zu hören. Heiraten?, dachte er plötzlich. Ich werde Marianne heiraten. Mein Gott. Aber er fragte sich, wer eigentlich die Woche Bedenkzeit brauch te. Hatte sie sich damit vielleicht selbst Zeit erkauft? Würde sie mit irgendwelchen Ausreden kommen und versuchen, es aufzuschieben, wenn er sie am nächsten Mittwoch anrief?
    Ich denke ungefähr in der gleichen Art und Weise darüber nach, kam ihm in den Sinn, als würde ich ein neues Auto kaufen. Oder eine Wohnung. Er stand vor einem langjährigen Vorhaben, und die Verkäuferin war sich noch nicht klar darüber, ob sie wirklich den richtigen Käufer gefunden hatte. Es waren natürlich gleichzeitig absurde und hyperpragmatische Gedanken, aber er versuchte dennoch, das Ganze mit möglichst nüchternem Blick zu sehen.
    Wie sie zusammenlebten. Wie sie jeden Morgen im gleichen Bett aufwachten und jeder zu seinem Job entschwand. Wie sie

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