Eine ganz andere Geschichte
In meinem Alter, dachte er, hat man wahrlich nicht alle Zeit der Welt, um auszusuchen und zu verwerfen.
Handeln oder verdorren.
Erneut erschien es ihm etwas krass und bis zur Grenze pragmatisch zu klingen, besonders, da er keinerlei Zweifel hinsichtlich seiner Gefühle Marianne gegenüber spürte. Er liebte sie, er war bereit, seinen Job aufzugeben und mit ihr in Helsingborg zusammenzuziehen, so einfach war das. Oder irgendwo sonst, wenn ihr das lieber war. Berlin oder Fjugesta oder weiß der Teufel wo.
Ich würde mich für sie entscheiden, und wenn alle Frauen der Welt zum Angebot stünden, dachte er. Wirklich, ich lüge nicht, der Sonnenuntergang ist mein Zeuge.
Dann tauchte ein Bild der Erinnerung in seinem Kopf auf. Man konnte sich fragen, wieso.
Ein Fall vor ungefähr zehn Jahren. Eine Frau hatte mitten in der Nacht auf der Wache angerufen und erklärt, sie habe ihren Mann getötet. Sie hatte die Adresse angegeben, eines der damals gerade neu gebauten Mehrfamilienhäuser unten in Pampas, er war zusammen mit einer Kollegin, die später nach Stockholm umgezogen war, hingefahren – und sie konnten feststellen, dass es genauso war, wie die Frau gesagt hatte. Der Mann saß vornübergebeugt am Küchentisch, den Kopf auf den verschränkten Armen ruhend, und wenn es da nicht den Griff des Fleischmessers gegeben hätte, der zwischen seinen Schulterblättern herausragte, hätte man glauben können, er säße dort und schliefe.
»Warum?«, hatte Barbarotti gefragt.
»Ich wusste mir keinen anderen Rat«, hatte die Frau geantwortet. »Er hat gesagt, er will mich verlassen. Was wäre dann aus mir geworden?«
Er hatte sie verblüfft betrachtet. Eine etwas übergewichtige, erschöpfte Frau um die fünfundfünfzig. »Und was wird jetzt aus Ihnen?«, hatte er gefragt.
»Jetzt wird für mich gesorgt«, erklärte sie. »Ich hätte es nicht geschafft, allein zu leben. Nicht einen Tag. Und Arne kommt unter die Erde.«
Später hatte er sie vernommen, und sie war ihrer Linie treu geblie ben, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Nichts, was in Frage gestellt oder weiter ausgeführt werden musste – ihr Mann hatte versprochen, sie zu lieben und sich sein Leben lang um sie zu kümmern, und jetzt hatte er sein Versprechen gebrochen, und da gab es nur eine einzige logische Lösung des Problems: ihm ein Messer in den Rücken zu rammen. Der Gerichtspsychiater, der sie mehrere Tage lang untersucht hatte, kam zu dem Schluss, dass sie geistig vollkommen gesund sei, und folgerichtig wurde sie zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt.
Barbarotti musste immer mal wieder an den Fall denken. Oder besser gesagt, er tauchte in regelmäßigen Abständen aus seinem Unterbewusstsein wieder auf. Wie jetzt. Ohne dass er es verhindern konnte. Und er wurde immer von Fragen begleitet, die er nicht so richtig formulieren konnte. Aber was wichtiger war: die er nicht beantworten konnte.
Wie war es eigentlich um ihre Schuld bestellt?
Warum fiel es ihm so schwer, einzusehen, dass sie überhaupt ein Verbrechen begangen hatte?
Wäre er unumschränkter Richter in einem utopischen Rechtsstaat, dann hätte er sie wahrscheinlich – gegen ihren eigenen Willen – freigesprochen. Da sie nie in ihrem Leben wieder in die Lage kommen würde, so eine Handlung begehen zu müssen, um sich zu verteidigen … ja, was immer sie auch damit verteidigte. Er konnte den Kern des Ganzen nicht so recht finden, aber es erschien ihm auch nicht wichtig, die Sache ganz genau in Worte zu fassen.
Was wichtiger war, das war wahrscheinlich die Frage, in welchem Grad es mit seiner Rolle als Polizeibeamter vereinbar war, mit derartigen Gedanken über Verbrechen und Strafe im Kopf herumzulaufen?
Er kam auch an diesem schönen Augustabend zu keiner Lösung. Als es zwölf Uhr geworden war und alle Krähen verstummt waren, beschloss er, ins Bett zu gehen, aber er hatte sich kaum von seinem Stuhl erhoben, da klingelte sein Handy.
Scheiße, dachte er. Sara. Es ist ihr etwas passiert.
Doch es war nicht Sara.
Es war Göran Persson.
Eine verwirrte Sekunde lang glaubte Barbarotti tatsächlich, der ehemalige Premierminister rufe ihn in irgendeiner politisch verzwickten Frage an – doch dann begriff er, dass es sich nur um denselben Namen handelte.
Göran Persson war Reporter bei der Zeitung Expressen, und sein Anliegen war klar und deutlich wie dicke Tinte.
»Es geht um die beiden Morde in Kymlinge. Ich habe Informationen bekommen, wonach der Mörder Ihnen geschrieben und
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