Eine ganz andere Geschichte
ihn wieder. Guck mal, da sitzt Kriminalinspektor Barbarotti und isst ganz allein! Der Arme, er hat bestimmt kein schönes Leben.
Scheiße, nein, das war keine Alternative. Aber er hatte Hunger. Die Signale des Körpers ließen sich in dieser Richtung nicht fehlinterpretieren. Dann sollten es wohl ein paar Würstchen mit Kartoffelbrei am Rockstagrill werden, das war ein relativ diskreter Kompromiss, und das hatte schon früher geklappt. Vielleicht konnte er auf dem Rückweg noch beim Älgen vorbeischauen und sehen, ob dort ein bekanntes Gesicht an der Bar herumhing?
Er schaute aufs Thermometer vor dem Küchenfenster, bevor er losging. Vierundzwanzig Grad. Die Hitze war nach ein paar unbeständigen Tagen zurückgekommen. Er brauchte nicht einmal einen Pullover. Ein Abend, wie geschaffen, um in fröhlicher Runde draußen zu sitzen.
Wie groß ist doch die Finsternis in meinem Körper, dachte Gunnar Barbarotti und machte sich auf den Weg.
Und Marianne darf ich erst am Mittwoch anrufen.
Aber er durfte Sara anrufen.
Die Würstchen bei Rocksta und ein einsames melancholisches Bier allein im Älgen zogen sich bis Viertel nach acht hin, und er hatte kaum einen Fuß in den Flur gesetzt, als ihm klar war, dass er mit seiner Tochter reden musste.
Musste.
Er ließ sich auf dem Balkon auf den Liegestuhl sinken und wählte die Nummer. Betrachtete den Sonnenuntergang und hörte den Krähen zu, während er darauf wartete, ihre Stimme in London zu hören. Nach sechs Freizeichen stellte sich der Anrufbeantworter an. Sara teilte fröhlich mit – sowohl auf Englisch als auch auf Schwedisch –, dass sie wahrscheinlich schlief oder unter der Dusche stand, aber noch vor Weihnachten zurückrufen würde, wenn man nur die Nummer hinterließ. Er wartete fünf Minuten, dann versuchte er es noch einmal. Dieses Mal ging sie dran.
»Hallo, hier ist dein Papa.«
»Wer?«
Im Hintergrund waren Musik und Stimmen zu hören.
»Ich bin es«, sagte er etwas lauter. »Dein lieber Vater, falls du dich noch an mich erinnerst.«
Sie lachte. »Ach, du bist es. Sag mal, kann ich dich in … in einer halben Stunde zurückrufen, im Augenblick ist hier ziemlich viel los.«
Er erklärte, dass das in Ordnung sei. Fragte sich, was sie wohl mit ›ziemlich viel los‹ meinte. Und was ›hier‹ bedeutete. Es klang jedenfalls nicht besonders beruhigend. Es wäre viel besser gewesen, sie wäre daheim gewesen und er hätte nur die Geräusche der Fernsehnachrichten oder eines Staubsaugers im Hintergrund gehört. Es war auch Flaschen-klirren zu hören, dort, wo sie sich befand, oder? Und Rauch, sicher war es wahnsinnig verqualmt, so etwas war zwar nur schwer via Telefon zu beurteilen, aber wenn man seit zwanzig Jahren bei der Kripo war …
Er holte die Liste mit den sechzig Namen aus der Aktentasche, das letzte Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich wieder auf dem Balkon nieder.
Dann kann ich die Wartezeit ebenso gut für etwas Arbeit nutzen, dachte er. Das scheint ja das einzig Verlässliche zu sein, auf das ich mich stützen kann. Das Leben ist eine Kiesgrube, und ich bin eine Schaufel.
Es dauerte fünfundfünfzig Minuten, bis Sara anrief, fast eine Minute pro Name also, doch es nützte nichts. So sehr er auch auf jeden einzelnen starrte, so schien ihm doch keiner wirklich zu einem briefeschreibenden Mörder zu passen, und kein Licht entzündete sich im Dunkel.
»Hallo, Papa«, sagte Sara. »Kannst du zurückrufen, ich habe fast kein Guthaben mehr auf meiner Karte.«
Das war die übliche Prozedur. »Wie geht es dir?«, fragte er, als das Gespräch endlich in Gang kommen konnte.
»Gut«, sagte Sara. »Mir geht es prima. Du machst dir meinetwegen doch wohl keine Sorgen?«
»Gibt es einen Grund dafür?«, kam seine listige Rückfrage.
»Nicht den geringsten«, behauptete Sara lachend. »Aber ich weiß ja, was für ein Gluckenvater du bist. Aber gut, dass du angerufen hast. Dann kann ich dir erzählen, dass ich einen Freund habe.«
»Einen Freund?«, wiederholte Gunnar Barbarotti und hätte fast sein Bierglas zerdrückt.
»Ja. Er heißt Richard. Er ist ganz phantastisch.«
Das glaube ich keine Sekunde lang, dachte Barbarotti. Er versucht nur, dir was vorzumachen und nutzt dich aus, kapierst du das nicht?
»Richard?«, sagte er. »Aha. Und was macht er so?«
»Er ist Musiker.«
Musiker!, schrie eine Stimme in Gunnar Barbarottis Innerem. Sara, hast du vollkommen den Verstand verloren? Musik und Drogen und Aids und der Teufel und seine Großmutter,
Weitere Kostenlose Bücher