Eine geheime Liebe - Roman
dieselbe Loge genommen, eine schützende Nische für meine emotionalen Waffenstillstände,
für das Reinigungsritual meiner Kapitulation. In jener kleinen Welt mit den roten Samtbezügen, die von tausenden müder Ellbogen abgenutzt waren, fiel alle Müdigkeit von mir ab. Ich verbarg mich vor der Welt wie in einer abgelegenen Kirche auf dem Land. Dieselbe nüchterne, ewige Schönheit voller Spuren des Lebens.«
»Als ich ein Kind war, hat mein Vater mich zu den Proben mitgenommen. Immer gab es einen besonderen Anlass dafür, die Belohnung für eine gute Schulnote, ein Geburtstagsgeschenk. Meine Schwester hat mich darum beneidet, ohne es sich anmerken zu lassen. Immer hat sie so getan, als würde sie sich nicht für Musik interessieren, aber sie hat es meinem Vater nie verziehen, dass er mich in dieser Weise vorgezogen hat. Das hat sie mir gestanden, als sie längst erwachsen war und er sich nicht mehr verteidigen konnte. Papa hat mich bis zur letzten Parkettreihe begleitet, wo ich mich hingesetzt habe und immer ein bisschen Angst vor dem riesigen bedrohlichen Kronleuchter hatte. Irgendwann fällt er mir auf den Kopf, dachte ich, bums, ganz plötzlich. Einmal hat er mir sein Innenleben gezeigt. Sind Sie je dort hochgestiegen, Signora?«
»Nein, ich glaube nicht. Daran würde ich mich erinnern.«
»Ich war ganz lieb und ruhig. Manchmal habe ich Papa gesehen und mich als seine einzige Komplizin in dieser Welt gefühlt, die der Rest der Familie, allen voran meine Mutter, demonstrativ missachtet hat. Während des gesamten Konzerts hielt ich die Augen geschlossen. Die Musik bildete den
Hintergrund für die Geschichten von Personen, die aus den Klängen geboren wurden, jedes Mal neue. In dieser Fantasiewelt fühlte ich mich stark und sicher. Abends vor dem Einschlafen hörte ich die leblosen Noten noch einmal erklingen. Damals ist vermutlich mein Wunsch entstanden, Cello zu lernen. Seit ich dann in ein Orchester eingetreten bin, habe ich außer auf der Bühne oder im Orchestergraben keine Musik mehr gehört. Der Unterschied von zwanzig Metern hat meinen Blickwinkel entschieden verändert.«
Während sie sprach, lehnte sie am Bücherregal, eine biegsame Gestalt. Ihre tiefgründigen dunklen Augen schauten sich um und folgten einer Bahn, die nur sie wahrnahm. Es war, als würde dieses gemütliche Zimmer mit dem alten Tand sie in ihre Kindertage zurückversetzen.
Jene Jahre heraufzubeschwören, belastete mich nicht mehr. Es war, als würde sich weißlicher Zuckerguss über die Erinnerungen legen und wie bei einem guten Konditor den Konturen die Schärfe nehmen.
»Besonders gefiel es mir, wenn die Instrumente gestimmt wurden. Das ist ein ganz besonderer Klang, finden Sie nicht? Haben Sie je irgendetwas Vergleichbares gehört, Lucrezia? Für mich war es der absolute Höhepunkt. Irgendjemand hat mir mal erzählt, dass eine winzige Bewegung reicht, um eine Geige ihrer Klangreinheit zu berauben. Ich muss gestehen, dass es mir auch heute noch gefällt, wenn ich diese schrägen Töne höre.«
Als Kind muss sie genauso dreingeschaut haben, die Lippen zu einem nachdenklichen Schmollmund verzogen. Als
sie merkte, dass ich sie beobachtete, entspannte sie sich sofort wieder.
»In dieser Atmosphäre war jede Musik heilig, Lucrezia. Das Größte war natürlich Brahms. Ich habe mich zurückgezogen, um vor den anderen zu verbergen, was sie in meinen Augen erblickt hätten. Die Schätze dieses Reichs gehörten mir allein. Das Theater war der einzige Ort auf der Welt, wo ich der Schönheit begegnen und sie ungestört genießen konnte. Niemand kam, um diese zutiefst innerliche Melodie zu unterbrechen. Noch heute haftet der Trauer der Geruch dieses Schlupfwinkels an.«
»Hier stehen so viele Platten, Signora. Spielen Sie auch ein Instrument?«
»Nein, ich verstehe nicht viel von Musik. Ich kann mich nur von den Wellen ihrer Schönheit überrollen lassen. Von meinem privilegierten Logenplatz aus, zweite Reihe links, habe ich auf die Bühne geschaut und die Streicher bewundert, deren Bogen sich wie die Gliedmaßen beim Ballett gleichzeitig bewegten und Muster ohne erkennbaren Sinn in die Luft malten. Manchmal ragten sie empor wie stolze Masten mit geblähten Segeln, die im Sonnenuntergang in den Hafen einliefen. Die sanften, aber kraftvollen Bewegungen der Hände, der dunkel gekleideten Arme und Schultern, begleiteten meinen Geist auf seinen einsamen Reisen. In meinem roten Käfig habe ich den Gefühlen freien Lauf gelassen. Um dann wieder
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