Eine geheime Liebe - Roman
unangemessen, aber während ich im Wohnzimmer aus dem Fenster schaute und darauf wartete, dass sie aus der Allee auftauchte, konnte ich an nichts anderes denken. Würde sie es mit einer gewissen Milde ertragen, dass eine alte Dame es bis heute nicht verstanden hatte, sich in Schamhaftigkeit zu üben? Wir Alten können den Jungen vielleicht beibringen, wie man sich in die Arme schließt. »Lange Arme müssen es sein«, würde ich ihr erklären. »Und sensible Finger. Die Handgelenke müssen zart sein. Elegant. Nachgiebig.«
Ich hatte Annette den Besuch eines wichtigen Gastes angekündigt. Einer Italienerin.
»Dann mache ich Spaghetti mit Tomatensoße. Und Kotelett«, sagte sie mit ihrer schrillen Stimme und bemühte sich vergeblich, eine Vertrautheit wiederherzustellen, die mit der Zeit brüchig geworden war. Freundschaft hatte uns nie verbunden, allerdings sind wir auch nie wie Hausherrin und Bedienstete miteinander umgegangen. Ihrer notorischen Aufdringlichkeit wegen haben wir uns oft gestritten, aber immerhin ist sie Teil dieses Hauses, seit sie mit der Blumenfrau aus Saint-Rémy hier aufgekreuzt ist, die Hände mit den ungepflegten Fingernägeln herrisch in die breiten Hüften gestemmt, einen Ausdruck von unendlicher Traurigkeit in den Augen. Der einzige Mensch, der ihr geblieben war, ein alter und - wenn man ihr Glauben schenken
durfte - mürrischer Ehemann, hatte sich mit einem Bauerntölpel aus dem Staub gemacht. Nach Jahren des Zusammenlebens war diese unglückselige Stimme mit dem unverkennbar elsässischen Akzent immer noch ein Ärgernis, das ich nur ertrug, wenn ich mit dem richtigen Fuß aufgestanden war. Wie an diesem Tag. Dass Thierry verreist war, erfüllte mich mit Erleichterung. Obwohl er jeden Winkel meiner Existenz kennt, hätte ich nicht gewusst, wie ich sie ihm hätte vorstellen sollen. Heute Morgen ist er nach Paris aufgebrochen und hat eine verdächtige Sehnsucht nach seinem Sohn Maurice und Seezungen »Isidore« aus dem Artois vorgeschoben. Als ich aufgewacht bin, lag ein Zettel auf dem Kopfkissen: »N’oublie pas. Je reviens.« Vergiss nicht, ich komme wieder. Dann das übliche hochwillkommene »Ich liebe dich«.
Sie kam am Nachmittag. Aus unerklärlichen Gründen war es schon dunkel. Hier unten ist der Himmel nie ganz finster, nicht einmal während der strengsten Winter. Wenn man genau hinschaut, findet man immer einen zaghaften Stern, der ein Fleckchen am Firmament erleuchtet. An diesem Tag nicht. Ich würde mit einer unbekannten Person allein sein und nicht auf den geringsten Trost hoffen dürfen. Als ich den Wagen hörte, ging ich hinunter, um an der Tür auf sie zu warten. Auf dem Beifahrersitz lag ein schwarzer Cellokasten, und ich musste sofort daran denken, dass sich Musiker nie von ihrem Instrument trennen. Ganz allmählich wird es zur natürlichen Fortsetzung ihres Körpers. Ein Kind. Ein Geliebter. Die Sicherheit, irgendwohin zu gehören.
Die üblichen Förmlichkeiten brachten wir mit einem Händedruck hinter uns. Keinerlei Zaghaftigkeit lag darin. Das war hilfreich, um ein unterschwelliges Unbehagen aufzulösen. Ich hatte mich nicht gegen die Erinnerungen gewappnet, Gabriella, und dieses Mädchen zog mich sofort in seinen Bann. Ihr Blick war fiebrig. Sie war auf der Suche nach Sicherheiten, nach Antworten, nach einer Geschichte. Dass die Zeit tröstliche Schleier über das legt, was wir Wahrheit nennen, war ihr nicht bewusst. Nach nur wenigen Minuten fiel mir nichts Besseres ein, als ihr ein warmherziges Lächeln zu schenken, womit ich sonst zu geizen gelernt habe. Ich musste mich dazu zwingen, nicht ständig auf diesen Leberfleck zu starren, der schelmisch über ihrer Oberlippe thronte. Ein kleiner dunkler Fleck, den du für einen Makel halten würdest und der mich um mindestens dreißig Jahre zurückwarf. Das unscheinbare Detail übte eine unerklärliche Faszination auf mich aus und erwischte mich mit einer Kraft, als hätte mich eine plötzliche Böe umgeweht.
Sie steckte ihre Nase in mein Arbeitszimmer, das mit lauter sinnlosem Zeug vollgestopft ist. Man musste nur die Plakate und die alten Fotos von den Opern sehen, um sich anhand dieser bunten Ansammlung einen Eindruck von meinen Theaterjahren zu machen. Die Bilder meiner Erinnerung waren ein guter Ausgangspunkt für Erzählungen, ohne in eine eitle Auflistung von Lebensdaten zu verfallen. Sie saß im Sessel neben dem Fenster, hatte die langen Beine in der schwarzen Strumpfhose übereinandergeschlagen und begann
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