Eine geheime Liebe - Roman
klar, dass Deine Schulter das Symbol für unseren Weg in die Ohnmacht war. Oder hat die Musik dieses Weinen ausgelöst? Es war meine letzte, extremste Geste der Liebe. Erinnerst Du Dich an unseren Helden? Er stirbt, indem er einfach nicht mehr schläft. Ich bin gegangen. Und zwinge mich, nur noch Musik aus dem achtzehnten Jahrhundert zu hören, strenge Oratorien, sogar Telemann, der nie meine inneren Saiten zum Schwingen gebracht hat. Ich habe Dutzende von CDs gekauft, die nach Vernunft klingen und sich an technischen Konventionen orientieren. Sechs faule Monate habe ich mir in Paris gegönnt, weil ich nicht wusste, was ich tun soll. Jetzt - Du wirst es kaum glauben - habe ich ein Geschäft aufgemacht. »Les belles choses«, so heißt es. Ich verkaufe alles, was meiner Meinung nach zu einem glücklichen Leben beitragen kann: Bücher, Einrichtungsgegenstände für ein Haus, wie ich es mir wünsche, Devotionalien bedeutender Menschen, musikalische Raritäten, nichts Anspruchsvolles. Musik, Theater, Oper, Tanz stehen in den Regalen. Ich habe Ordnung in die Leidenschaft gebracht und leiste mir das Vergnügen, mir von den Verlagen nur Bücher schicken zu lassen, die ich liebe: Biografien vor allem, und dann Briefe, unveröffentlichte oder berühmte Briefwechsel. Schließlich Noten. Nur geliebte Komponisten. Brahms empfehle ich als Balsam für die Seele - »Es wird Ihnen besser gehen«, sage ich. Das Schöne ist, dass sie mir glauben. Oft kommt ein Schriftsteller und kauft
Bücher. Er heißt Thierry und schreibt über das neunzehnte Jahrhundert in Frankreich. Wir haben uns an der Sorbonne kennen gelernt, wo er ein Literaturseminar abhält. Er ist bei seinen Studenten sehr beliebt. Manchmal gestatte ich es mir, mit ihm auszugehen. Hartnäckig schlägt er mir Dinge vor, die er hochtrabend die »angenehmen Seiten des Lebens« nennt. Nein, kein Sex. Der ist vorläufig mit meinen Erinnerungen an Dich verknüpft, der Du mit dieser dummen Treue aus der Ferne nichts anzufangen weißt. Ich liebe Dich. Für immer, fürchte ich.
C.
Langsam faltete sie den langen Brief zusammen und wirkte erleichtert. Das war zumindest mein Eindruck, als sie zum Kamin im Speisesaal hinüberschaute, während ihr ein arroganter Kellner Rauten von foie gras hinstellte. Sie hielt mein Leben in ihren Händen. In wenig mehr als vierundzwanzig Stunden hatte ich es für sie zusammengefasst.
»Zu spät auch für ihn, Lucrezia. Er ist gestorben, ohne zu erfahren, wo ich geblieben bin.«
Sie sagte nichts und sah mich nur an, mit diesem rätselhaften Leuchten in den Augen, das mir jetzt keine Angst mehr machte. Ich war losgesprochen worden, auch von ihr. Sie erteilte mir die Erlaubnis fortzufahren. Die Fortsetzung schildere ich nun auch Dir, die Du Dich ab sofort aber mit Zufällen und dem rasanten Einbruch des Schicksals abfinden musst.
»Letzte Woche bin ich in dieses Theater zurückgekehrt, Lucrezia. Das habe ich nicht mehr getan, seit ich freiwillig ins Exil gegangen bin und das dreißig Jahre lang durchgehalten habe. Wenn ich diese sinnlose Selbstbeschränkung jetzt aufgegeben habe, verdanke ich das Valeria, die zwei Konzertkarten hatte. Das Geschenk habe ich gerne angenommen und den ganzen Vormittag beim Friseur verbracht. Um dem Anlass einen geheimnisvoll offiziellen Anstrich zu geben, habe ich außerdem ein schwarzes Kleid, das ich in jenen Jahren getragen habe, wieder ausgegraben. Es hatte unbeschadet in Carolinas Kleiderschrank überlebt. Mein Körper wird älter, meine Liebe, aber nicht dicker.«
Gabriella, ich bin mit einer merkwürdigen Furcht am Theater angekommen. Mit einer Vorahnung. Eine von der Art, wie ich sie manchmal ganz plötzlich gespürt und Dich dann sofort angerufen habe, um mich zu erkundigen, »ob irgendetwas nicht stimmt«. Es gab immer etwas, das nicht stimmte. Diese Vorahnungen waren der Kitt unserer Freundschaft, die seit kurzem fünfzig Jahre besteht. Lucrezia war wie ein Kind, dem die Großmutter etwas Geheimnisvolles zu enthüllen beschlossen hatte. Eine große Vertrautheit lag in der Luft. Es gefiel mir, diese Frau zu betrachten; sie war schön und wie eine Freundin für mich. Sie zu duzen, war jetzt vollkommen natürlich.
»Vor mir tauchte die altehrwürdige Gestalt des Theaters auf, die man beim Umbau zum neuen Jahrtausend erhalten hat. Wie eine unbewohnte Villa im Nebel sah es aus. Schwarze Figuren mit Hüten und eleganten Kleidern eilten
darauf zu. Valeria wartete im Foyer auf mich, und wir gingen in den
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