Eine geheimnisvolle Lady
Haus?«
»Nun, ich …« Hilfesuchend wandte sie sich zu Miss Smith, die betreten schwieg.
»Lüg mich nicht an! William hinterließ dir ein bisschen Geld, aber nicht genug für die Kosten eines extravaganten Aufenthalts in London. Irgendwie glaube ich, Lord Burnley steckt dahinter.«
Burnley?
Ungläubiges Entsetzen lähmte alle Muskeln in Ashcrofts Körper, und das Gefühl, unter seinen Füßen würde sich kein Boden mehr befinden, verstärkte sich. Dieser elende Schurke kannte Diana?
Der Marquess zählte zu den Aristokraten, die er verachtete. Von Grausamkeit und Niedertracht erfüllt, bildete der Mann sich ein, seine Herkunft würde ihn berechtigen, Kinder wegen geringfügiger Vergehen zu deportieren oder sogar hängen zu lassen, wenn ihn niemand daran hinderte. Bedauerlicherweise fand er viele Gleichgesinnte, deren übermäßige Arroganz, Machthunger und blinder Konservativismus einen Großteil der Bevölkerung zu Armut und Ignoranz verdammten.
Im Parlament gerieten Ashcroft und Burnley immer wieder erbittert aneinander. Dank der drakonischen Politik, die von vielen Mitgliedern der herrschenden Klasse bevorzugt wurde, gewann der Marquess die meisten dieser Wortgefechte.
Warum sollte sein Protegé – falls Diana das war – den berüchtigten, lasterhaften Earl of Ashcroft zu ihrem Liebhaber erwählen? Burnley musste ihn als personifizierten Satan beschrieben haben. Trotzdem hatte sie sich tollkühn angeboten, mit einer albernen Geschichte über erotische Erfahrungen, die sie sammeln wollte. Durch seinen Kopf schwirrten Verwirrung, Misstrauen, wilde Spekulationen. Und nichts ergab einen Sinn.
Eine Verschwörung? Was hoffte Burnley, damit zu erreichen? Wenn die Affäre ans Licht der Öffentlichkeit kam, würde Diana Schaden nehmen, nicht Ashcroft. Was Frauen betraf, konnte sich sein Ruf nicht mehr verschlechtern, und die Welt erwartete wohl kaum, dass er sich wie ein Ritter in schimmernder Rüstung verhalten würde. Sollte sich herumsprechen, er habe eine tugendhafte Witwe vom Lande verführt, würde die feine Gesellschaft nicht einmal eine Hand heben, um ein gelangweiltes Gähnen zu verbergen. Trotzdem ermahnte ihn ein Instinkt zur Vorsicht.
Während sein Gehirn die widersprüchlichen Informationen zu sortieren suchte, beobachtete er Diana. Sie sah unglücklich und verloren aus.
Und schuldbewusst.
Er verstand es nicht. Die Geheimnisse häuften sich. Jedes Mal, wenn er glaubte, er hätte ein Rätsel gelöst, kamen tausend neue hinzu. Das Mysterium namens Diana zu ergründen, war, als wollte er die verdammte neunköpfige Hydra töten.
Ihre zitternden Hände verschwanden zwischen den Falten ihres Rocks. »Es ist nicht so, wie du glaubst, Papa.«
»Keine Lügen mehr!«, mahnte ihr Vater, die Stirn gefurcht. »Viel zu viele hast du mir schon erzählt. Ich schäme mich für dich, Diana.«
»Aber ich kann dir erklären …«
»Ich will es gar nicht wissen. Komm jetzt mit mir nach Hause, lass alle Sünden, die du begangen hast, hinter dir zurück. In Marsham wartet eine Menge Arbeit auf dich.«
»Ja, Papa«, sagte sie in einem unterwürfigen Ton, den Ashcroft noch nie gehört hatte.
Ja, Papa?
Was zum Teufel sollte das bedeuten? Fügte sie sich tatsächlich dem Willen ihres Vaters und kehrte aufs Land zurück? Und was war mit ihm? Alles in Ashcroft sträubte sich dagegen.
Ihr Gehorsam schien den alten Mann zu beschwichtigen, denn seine Stimme nahm einen sanfteren Klang an. »Draußen wartet George. Noch heute Nacht werden wir sicher und wohlbehalten daheim ankommen. Laura soll …« Plötzlich verstummte er und wandte sich auf seltsame Art, irgendwie ungefähr, in Ashcrofts Richtung. »Wer ist da?«
Erschrocken fuhr Diana zu Ashcroft herum und schaute ihn flehend an. »Äh … niemand, Papa.«
Was schwatzte die Frau? Da stand Ashcroft, unübersehbar. Verleugnete sie ihn, um ihn zu beleidigen? Wütend ballte er die Hände.
»Möge der Himmel dir deine Lügen verzeihen, Mädchen«, fauchte der alte Mann, von neuem Zorn erfüllt. Zum ersten Mal starrte er Ashcroft direkt an, mit leeren, milchigen Augen. Mit blinden Augen.
Mit Ashcrofts Ankunft in Dianas Haus hatte ihr Lügengebäude zu wanken begonnen. Jetzt brach es endgültig zusammen. Ringsum in der Luft entstand ein geisterhaftes Knistern, das Geräusch ihrer ganzen Welt, die zu Staub zerfiel. Oder vielleicht war es das Geräusch ihres Herzens, das in Stücke gerissen wurde.
»Wer ist da?«, wiederholte ihr Vater mit schärferer Stimme und schlug
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