Eine geheimnisvolle Lady
dem Gedanken, sich in seine Arme zu werfen, Burnley zu trotzen, alles zu gestehen und ihn anzuflehen, er möge sie irgendwo hinbringen, wo dies alles nicht mehr zwischen ihnen stehen würde. So verlockend. So unmöglich. Würde er sie morgen noch immer begehren, wenn sie sich heute seiner Gnade auslieferte? Gab es dafür eine Garantie? Selbst falls er ihr verzieh, er war berüchtigt für seine Unbeständigkeit. Kurzfristig mochte sie ihn gefesselt haben, doch die Faszination konnte jederzeit entschwinden. Den Kopf gesenkt, schloss sie die Augen und schickte ein stummes Gebet zum Allmächtigen, der einer so elenden Sünderin gar nicht zuhören musste.
Nein, sie würde nicht weinen. Ihr Vater verachtete sie, und sie musste auf Ashcroft verzichten, ihre Zukunft war eine öde Wüste. Aber Tränen würden ihr nicht helfen. Nichts würde ihr helfen. Nicht einmal die Aussicht, eines Tages Cranston Abbey zu hüten, das Landgut, das sie stets geliebt hatte und für das sie einen viel zu hohen Preis zahlen musste.
»Ich hole nur rasch meinen Umhang und den Hut, Papa«, erklärte sie tonlos. Ohne Ashcroft einen Blick zu gönnen, eilte sie zur Tür hinaus, schloss sie hinter sich und lief über den Fliesenboden zur Treppe. Glücklicherweise ließ sich keiner der wenigen Dienstboten blicken.
Seltsam, wie benommen sie sich fühlte, obwohl ein so brennender Schmerz direkt jenseits des gläsernen Walls lauerte, der sie von der Welt trennte. Taumelnd blieb sie stehen. Irgendein funktionsfähiger Teil ihres Gehirns sagte ihr, es sei klug und richtig, noch an diesem Abend abzureisen. Sie hatte mit Ashcroft gebrochen und musste ihn nie wiedersehen. Gewiss war ein schneller, endgültiger Abschied am besten, wie ein Pfeil, den man ruckartig aus einer Wunde riss. Dann floss das Blut und spülte das Gift weg. Danach würden sie beide genesen können.
Doch sie fürchtete, ihre Wunde würde niemals heilen. Hätte sie bloß auf Laura gehört, die immer noch behauptete, Diana würde bei Burnleys Projekt zu viel riskieren … Einem Mann, den sie nicht mochte, ihren Körper zu schenken und ihn dann zu vergessen? Das sei nicht so einfach, als würde man in einer Bäckerei einen Penny gegen ein Stück Kuchen eintauschen.
Der Entschluss, Ashcrofts Geliebte zu werden, hatte sie ihre Seele gekostet.
Inmitten ihres Elends hörte sie, wie die Tür der Bibliothek geöffnet und geschlossen wurde. Sofort eilte sie weiter.
»Warte, Diana!«
Heiliger Himmel rette mich!
Den Kopf gesenkt, beschleunigte sie ihre Schritte und sah kaum, wohin sie ging. Sobald sie die Treppe erreichte, würde sie in Sicherheit sein. Ashcroft würde sie nicht bis in ihr Schlafzimmer verfolgen, während sich ihr Vater im Haus aufhielt und sie jederzeit die Dienstboten zu Hilfe rufen konnte. Nicht einmal der ruchlose Earl würde die Konventionen so leichtfertig missachten.
Sie setzte einen Fuß auf die erste Stufe, den anderen auf die zweite und ließ den angehaltenen Atem aus ihren Lungen entweichen. Mechanisch griff sie nach dem Geländer. Da schlossen sich gebräunte männliche Finger um ihre Hand, pressten sie hart und gnadenlos gegen das polierte Holz.
Die Finger waren so warm. Die einzige Wärme in ihrem gefrorenen Universum. Sie starrte die Treppe an, die vor ihr nach oben führte. Sie durfte sich nicht zu Ashcroft wenden. Sobald er ihre Augen sah, würde er den Verrat erkennen. Und sie würde wissen, dass er ihn erkannt hatte, was vielleicht noch schlimmer war.
»Bitte, lass mich gehen«, sagte sie ausdruckslos.
»Was soll das alles, Diana?« Seine Frage klang freundlich, besorgt … liebevoll. Nein, Letzteres bildete sie sich in ihrer überaktiven, gepeinigten Fantasie nur ein.
»Bitte, lass mich gehen«, wiederholte sie und zerrte an ihrer Hand, die er mühelos festhielt.
»Nicht, bevor du mit mir geredet hast.«
Sie wünschte, seine Stimme würde sich nicht so ruhig anhören, nicht so sehr wie die Stimme des Mannes, den sie liebte. Warum tobte er nicht vor Zorn? Warum verfluchte er sie nicht? Warum schlug er diesen sanften Ton an, statt sie eine treulose, verlogene Hure zu nennen? Merkte er denn nicht, dass es vorbei war, dass sie nirgendwo hingehen konnten? Nicht zusammen. Nicht mit diesem wundervollen, kostbaren Geschenk der Sinnenlust, die sie so oft geteilt hatten.
Wehmütig dachte sie an das gemeinsame Gelächter, die angeregten Gespräche im nächtlichen Dunkel und an das Wichtigste – das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Vielleicht war die
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