Eine geheimnisvolle Lady
schwindlig vor Hitze, vor Sorge, vor Spannung. Von den nächsten paar Sekunden hing alles ab. Und Lord Ashcroft durfte keinesfalls merken, wie dringend sie ihn brauchte.
Durch den Hutschleier beobachtete sie, wie er den Kopf neigte, als würde er gewisse Einzelheiten einer Parlamentsdebatte zur Kenntnis nehmen. Oder das erste Blut in einem Fechtkampf. »Was für ein interessantes Angebot.«
Sie fuhr mit der Zunge über ihre trockenen Lippen und dankte dem Himmel, weil ihr kein weiteres Anzeichen entschlüpfte, das ihm verraten könnte, dass sie keineswegs so gefasst war, wie sie erscheinen wollte. »Nun, ich halte kokette Spielchen für sinnlos.«
»Offensichtlich.« Klang das ironisch?
Energisch bezwang sie ihre Scham, ihre Verlegenheit. Sie hatte sich geschworen, ihren Plan durchzuführen. Und nichts würde sie daran hindern. Nichts. Wenn sie diesen Moment – und die nächsten unvermeidlichen Momente – gegen den verheißungsvollen Lohn abwog, spielte ihr derzeitiges Unbehagen keine Rolle.
»Sind Sie eine Prostituierte?«
Er stellte die Frage so beiläufig, als würde die Antwort kaum einen Unterschied machen. Kein Wunder. Wie sie gehört hatte, schlief er mit allem, was Röcke trug – mit Ladys, Freudenmädchen, Dienstboten. Trotzdem stieg ihr brennendes Blut in die Wangen. Wieder einmal war sie dankbar für den feinen grauen Schleier. »Nein.«
Trotz ihrer Mühe schwang Entrüstung in dem kurzen Wort mit. Seine Reaktion konnte sie nicht erkennen. Aber irgendetwas verriet ihr, dass ihr scharfer Tonfall seine Neugier weckte.
»Und trotzdem …« Aus seiner sanften Stimme hörte sie einen gewissen Spott heraus, der sie unlogischerweise ärgerte.
Selbstverständlich nahm er an, sie würde dem ältesten Gewerbe der Welt nachgehen. Was sollte er sonst denken, wenn sie ihn uneingeladen besuchte und sich als Kandidatin für seine ausschweifenden Gelüste präsentierte?
Gewöhn dich daran , befahl sie sich grimmig. Dies war nur ihr erster Schritt auf diesem besonderen Weg ins Verderben. Bevor sie ihr Ziel erreichte, lagen Gebirge, Abgründe und Wüsten vor ihr, die sie überwinden musste. Jetzt war es zu spät für prüde Bedenken, obwohl ihr die Demütigung den Magen zusammenkrampfte.
Er inspizierte sie immer noch über seine zusammengelegten Hände hinweg, und da sie nicht antwortete, stellte er die nächste Frage. »Warum erweisen Sie mir diese Ehre? Ich zögere, mich für den einzigen Auserwählten zu halten.«
Obwohl ihr die Beleidigung nicht entging, war sie eher verwirrt als empört. Er war ein stadtbekannter Lüstling. Frauen stellten ihm wahrscheinlich ständig nach. Und er stellte den Frauen nach. Mit welchem Recht mimte er den Moralapostel?
Sie hob das Kinn und warf ihm einen vernichtenden Blick zu, der hinter ihrem Schleier verborgen blieb. Als sie sich in ihrem Schlafzimmer für diese Begegnung angekleidet hatte, war ihr bewusst gewesen, dass sie eine schwierige Mission vor sich hatte. Doch hier – mit einem höflichen, widerspenstigen Gentleman konfrontiert, der sich keineswegs wie der berüchtigte unersättliche Schürzenjäger benahm – schien sie plötzlich unmöglich.
Zumindest übte der Zorn eine ermutigende Wirkung aus. Er verlieh ihr die Kraft, die Geschichte zu erzählen, die sie sich zurechtgelegt hatte, falls der Lebemann nach dem Grund ihrer Offerte fragen sollte. »Ich bin eine Witwe vom Land.«
Wieder ein knappes Nicken. »Oh, mein Beileid.«
Ihre behandschuhten Fäuste krallten sich um die Armstützen ihres Sessels, ehe sie erkannte, wie schlecht diese Geste zu ihrem geheuchelten Gleichmut passte. Hastig lockerte sie ihre Finger und holte tief, aber unhörbar Atem.
Schon jetzt missfiel ihr dieser Mann.
Doch darauf kam es nicht an. Sondern nur auf den Gewinn, den sie erringen würde, wenn sie ihre Interessen zielstrebig verfolgte. Nach einem kurzen Abstieg in sündhafte Niederungen würde sie alles erreichen, was sie ersehnte. Ein faires Geschäft. Wenigstens war sie dieser Meinung gewesen, bevor sie diesem erstaunlich anspruchsvollen Mann gegenübergesessen und sich erboten hatte, seine Geliebte zu werden.
Sie war verärgert, fühlte sich unbehaglich und war ihm gegenüber im Nachteil. Aber seltsamerweise empfand sie, trotz ihrer Unsicherheit, keine Angst. Sie hatte erwartet, sie würde sich fürchten. Immerhin würde sie Seiner Lordschaft bald auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein.
Jedenfalls sollte er das glauben.
Wohl oder übel musste sie eine Erklärung
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