Eine Geschichte aus zwei Städten
vergingen schleppende zwei oder drei Stunden, und Madame Defarges häufige ungeduldige Kundgebungen über den Wortschwall der Zeugen wurden mit wunderbarer Schnelligkeit in die Ferne fortgepflanzt – um so schneller, da einige im Klettern wohlgeübte Männer zu den Fenstern hinaufgestiegen waren und, da sie Madame gut kannten, von dort aus zwischen ihr und dem Volke draußen Telegraphendienst leisteten.
Endlich stand die Sonne so hoch, daß ein freundlicher Strahl von ihr unmittelbar das Haupt des alten Gefangenen traf, als wolle sie ihn schirmen oder ihm Hoffnung einflößen. Das konnte man nicht mit ansehen. Im Nu ging die Schranke, als bestände sie aus Sägemehl und Spreu, die überraschend lange gestanden hatten, in die Winde, und er befand sich in den Händen von Saint Antoine.
Es war schnell bekannt bis ans äußerste Ende der Volksmenge. Defarge war über ein Geländer und einen Tisch hinwegge
setzt und hatte den unglücklichen Elenden mit tödlicher Umarmung umschlungen. Madame Defarge, die ihm nachfolgte, machte sich alsbald mit einem der Stricke, die ihn gefesselt hielten, zu schaffen. Die Rache und Jacques drei hatten sich ihnen noch nicht angeschlossen, und die Männer in den Fenstern waren noch nicht wie Raubvögel auf ihre Beute in die Halle hinuntergestoßen, als schon von der ganzen Stadt her der Ruf zu erschallen schien: ›Bringt ihn heraus! Heraus mit ihm an die Laterne!‹
Mit dem Kopfe voran, hinab und hinauf über die Treppen des Gebäudes; jetzt auf den Knien, jetzt auf den Beinen und jetzt auf dem Rücken; geschleppt, gezerrt und von Heu- und Strohwischen fast erstickt, die Hunderte von Händen ihm ins Gesicht stießen; zerrissen, zerbeult, blutend und doch ohne Unterlaß flehentlich um Gnade bittend; jetzt in der vollen Beweglichkeit der Todesangst, wenn ein kleiner Raum um ihn her dadurch gebildet wurde, daß die Hinteren die Vorderen zurückzogen, um ihn besser sehen zu können, jetzt wie ein Scheit Holz durch einen Wald von Beinen gezogen – so brachte man ihn bis zu der nächsten Straßenecke, wo eine der verhängnisvollen Laternen stand. Madame Defarge ließ ihn los wie etwa die Katze eine Maus und betrachtete ihn still und ruhig, während die anderen sich bereit machten und er sie anflehte; dabei schrien die Weiber ohne Unterlaß, und die Männer meinten allen Ernstes, man solle ihm so lange Gras in den Mund stopfen, bis er tot sei. Auf einmal ging es mit ihm in die Höhe. Der Strick riß, und sie fingen den Schreienden auf. Zum zweiten Mal wieder hinauf; abermals riß der Strick, und der Mann wurde aufgefangen. Beim dritten Mal war der Strick barmherzig und hielt. Bald nachher stak Foulons Kopf auf einer Pike und hatte Gras genug im Munde, um ganz Saint Antoine zu jubelnden Tänzen zu veranlassen.
Doch das schlimme Werk des Tages war noch nicht zu Ende. Das Blut von Saint Antoine hatte sich bei dem Schreien und Tanzen so erhitzt, daß es wieder wild aufkochte, als abends sich die Kunde verbreitete, der Schwiegersohn des Hingeschlachteten, gleichfalls einer von den Feinden und Verächtern des Volkes, komme mit einer Bedeckung nach Paris, unter der sich allein fünfhundert Mann Kavallerie befänden. Saint Antoine schrieb seine Verbrechen mit flammender Schrift nieder, bemächtigte sich seiner – würde ihn aus dem Herzen einer Armee herausgerissen haben, die sich dazu hergab, einen Foulon zu beschützen –, steckte seinen Kopf und sein Herz auf Spieße und trug die drei Siegeszeichen des Tages durch die Straßen – eine Prozession von Wölfen.
Erst bei dunkler Nacht kamen die Männer und Weiber zu den weinenden, hungernden Kindern zurück. Nun wurden die ärmlichen Bäckerläden belagert, und jeder wartete geduldig, bis die Reihe des Brotkaufens an ihn kam. Und während sie mit schwachem und leerem Magen harrten, vertrieben sie sich die Zeit damit, daß sie einander umarmten und die Triumphe des Tages schwatzend noch einmal errangen. Allmählich wurden die Reihen des zerlumpten Volkes kleiner; ärmliche Lichter begannen sich in den Dachfenstern zu zeigen, und auf den Straßen wurden dürftige Feuer angezündet, an denen die Nachbarn gemeinschaftlich das Nachtessen kochten, das sie in den Häusern verzehrten.
Ein elendes, ungenügliches Nachtessen, bei dem von Fleisch oder von einer Tunke für ihr grobes Brot keine Rede war. Doch goß geselliges Beisammensein einigen Nährstoff in steinharte Speisen und weckte einige Funken von Heiterkeit. Väter und Mütter, die unter den
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