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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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saß und im Schutze einer Erderhöhung sich möglichst gegen den niedergehenden Hagel zu decken suchte.
    Der Mann betrachtete ihn und sah dann nach dem Dorfe im Tal, nach der Mühle und nach dem Gefängnis auf dem Felsen. Nachdem er diese Dinge mühsam in sich aufgenommen hatte, sagte er in einem mit knapper Not verständlichen Dialekt: »Wie geht es, Jacques?«
    »Ganz gut, Jacques.«
    »Die Hand darauf!«
    Sie reichten sich die Hände, und der Mann setzte sich neben den Straßenarbeiter auf den Steinhaufen.
    »Nichts zum Mittagessen?«
    »Nein, nur etwas auf die Nacht«, versetzte der Arbeiter mit hungrigem Gesicht.
    »Das ist jetzt Mode«, brummte der Mann. »Ich treffe nirgends auf ein Mittagessen.«
    Er nahm eine schwarzgerauchte Pfeife heraus, stopfte sie, zündete sie mit Stahl und Stein an und sog daran, bis sie in heller Glut stand; dann hielt er sie plötzlich in einiger Entfernung von sich und ließ etwas, das er zwischen Finger und Daumen hielt, hineinfallen, so daß es hell aufloderte und ein qualmender Rauch in die Höhe stieg.
    »Die Hand darauf!«
    Diesmal war es an dem Steinklopfer, nach Beobachtung der verschiedenen Gebärden das Losungswort zu sagen. Sie reichten sich wieder die Hand.
    »Heute nacht?« fragte der Steinklopfer.
    »Heute nacht«, antwortete der Mann und steckte seine Pfeife in den Mund.
    »Wo?«
    »Hier.«
    Die beiden blieben, während der Hagel wie ein kleiner Bajonettangriff gegen sie losschlug, auf dem Steinhaufen sitzen und sahen einander an, bis der Himmel sich über dem Dorfe aufzuhellen begann.
    »Zeig mir's!« sagte dann der Fremde, zur Höhe des Hügels hinansteigend.
    »Dort!« entgegnete der Arbeiter mit ausgestrecktem Finger. »Du gehst hier hinab, geradeswegs über die Straße hinüber und an dem Brunnen vorbei …«
    »Zum Henker mit alledem!« unterbrach ihn der andere und ließ seine Augen über die Landschaft hingleiten. »Ich brauche deine Straßen und Brunnen nicht. Nun?«
    »Ja. Ungefähr zwei Stunden jenseits des Berggipfels über dem Dorfe.«
    »Gut. Wann hörst du auf zu arbeiten?«
    »Um Sonnenuntergang.«
    »Du kannst mich wecken, ehe du aufbrichst. Ich bin zwei Nächte durchgewandert, ohne anzuhalten. Laß mich meine Pfeife ausrauchen; dann werde ich schlafen wie ein Kind. Willst du mich wecken?«
    »Ja.«
    Der Wanderer rauchte seine Pfeife zu Ende, steckte sie dann in seine Brusttasche, streifte seine Holzschuhe ab und legte sich rücklings auf den Steinhaufen. Der Schlaf übermannte ihn schnell.
    Während der Steinklopfer in seiner staubigen Arbeit fortfuhr und die sich verziehenden Hagelwolken helle Streifen am Himmel erscheinen ließen, denen die Schlaglichter der Landschaft entsprachen, schien der kleine Mann, der jetzt eine rote Mütze trug statt einer blauen, ganz bezaubert zu sein von der Gestalt auf dem Steinhaufen. Seine Augen wandten sich ihm so oft zu, daß er sein Werkzeug nur mechanisch und, wie man sagen könnte, ziemlich erfolglos in Bewegung setzte. Das braune Gesicht, das zottelige Haar, der lange rauhe Bart, die grobe, rote Wollmütze, der Anzug – ein Mischmasch aus Hauslinnen und haarigen Fellen –, der kräftige, aber von Nahrungsmangel hagere Körper und das finstere, verzweifelte Zusammenpressen der Lippen im Schlafe flößten dem Steinklopfer Furcht ein. Die Füße des weitgereisten Fremden waren wund, seine Knöchel aufgerieben und blutend; denn seine großen mit Laub und Gras ausgestopften Schuhe hatten ihm zu schaffen gemacht während der Wanderung von so vielen langen Stunden, und die Löcher in seinen Kleidern entsprachen den Schürfungen seiner Haut. Der Steinklopfer bückte sich neben ihm nieder, um zu sehen, ob er an seiner Brust oder sonstwo nicht eine Waffe verborgen habe, aber vergeblich; denn der Mann hatte seine Arme über der Brust ebenso fest verschlun
gen, wie seine Lippen zusammengepreßt waren. Feste Städte mit ihren Gittern, Wachhäusern, Gräben, Toren und Zugbrücken schienen dem Steinklopfer nichts zu sein dieser Gestalt gegenüber. Und wenn er von ihr seine Augen zum Horizont erhob und umherschaute, so vergegenwärtigte ihm seine spärliche Phantasie ähnliche Gestalten, die unaufhaltsam über ganz Frankreich zu ihren Zielen hinstrebten.
    Der Mann schlief, gleichgültig gegen Hagelschauer und blauen Himmel, gegen Sonnenschein in seinem Gesicht und Schatten, gegen das Rasseln der Eiskörner auf seinem Leibe und die Diamanten, in die sie die Sonne verwandelte, bis es Abend war und der westliche Himmel sich in

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