Eine Geschichte aus zwei Städten
»Tot?«
»Nicht tot. Er fürchtete uns so sehr – und zwar mit Recht –, daß er sich für tot ausgeben und zum Schein ein großartiges Leichenbegängnis halten ließ. Aber man hat ihn auf dem Lande draußen versteckt lebend aufgefunden und hierhergebracht. Ich bin Zeuge gewesen, wie man ihn eben gefangen auf dem Stadthause ablieferte, und sagte ihm, daß er uns nicht ohne Grund fürchtete. Sprecht ihr alle – hatte er nicht Ursache dazu?«
Wenn es der unglückselige, mehr als siebzigjährige alte Sünder nie zuvor gewußt hätte, so würde ihn der auf diese Frage antwortende gemeinsame Ruf aufs gründlichste belehrt haben.
Dann folgte ein Augenblick tiefer Stille. Defarge und sein Weib sahen einander scharf an. Die Rache beugte sich nieder, und es erscholl der wilde Ton einer hinter dem Zahltisch stehenden Trommel, die sie anschlug.
»Patrioten«, rief Defarge mit entschiedener Stimme, »sind wir bereit?«
Im Nu hatte Madame Defarge ihr Messer im Gürtel; die Trommel scholl durch die Straßen, als sei sie und der Trommler herbeigezaubert worden, und die Rache rannte unter furchtbarem Gezeter und die Arme wie vierzig Furien zugleich über dem Haupte zusammenschlagend von Haus zu Haus, um die Weiber aufzubieten.
Die Männer waren schrecklich, wie sie in ihrem blutgierigen Zorn zu den Fenstern herausschauten, nach der nächsten besten Waffe griffen und auf die Straßen herausstürzten; aber die Weiber boten einen Anblick, der dem Kühnsten das Blut zum Erstarren bringen konnte. Von den Geschäften ihrer armen und kahlen Haushaltung, von ihren Kindern und von ihren Alten und Kranken hinweg, die nackt und verhungert auf dem Boden lagen, stürmten sie mit aufgelösten Haaren hin
aus und regten sich gegenseitig durch die wildesten Rufe und Handlungen bis zum Wahnsinn auf. »Der Schurke Foulon ist gefangen, Schwester! Der alte Foulon gefangen, Mutter! Der elende Foulon gefangen, Tochter!« Dann stürzte ein Dutzend anderer in ihre Mitte, die sich die Brust zerschlugen, das Haar zerrauften und in den Ruf ausbrachen: »Foulon noch am Leben! Foulon, der den verhungerten armen Leuten sagte, sie sollten Gras fressen! Foulon, der meinen armen Vater Gras fressen hieß, als ich ihm kein Brot zu geben hatte! Foulon, der meinem Kinde Gras zu saugen empfahl, als diese Brüste versiegt waren vor Mangel! O Mutter Gottes, dieser Foulon! O Himmel, unsere Leiden! Höre mich, mein totes Kind und mein vor Elend verkommener Vater – ich schwöre es auf meinen Knien, auf diesen Steinen, dich zu rächen an Foulon! Männer, Brüder, Jünglinge, wir verlangen das Blut, den Kopf Foulons! Gebt uns das Herz Foulons – gebt uns Foulon mit Leib und Seele! Reißt Foulon in Stücke und verscharrt ihn, daß Gras wachse aus seinem Leibe!« Unter solchem Geschrei rannten die Weiber wie toll umher und schlugen auf ihre eigenen Freunde los, bis sie im Übermaß ihrer Leidenschaft ohnmächtig zusammenbrachen und nur die zu ihnen gehörigen Männer sie noch davor retten konnten, daß sie unter den Füßen zerstampft wurden.
Gleichwohl ging kein Augenblick verloren; kein Augenblick! Dieser Foulon befand sich auf dem Stadthause und konnte wieder befreit werden. Nie, solange Saint Antoine seiner Leiden und des erfahrenen Unrechts eingedenk war! Bewaffnete Männer und Weiber strömten so schnell aus dem Viertel hinaus und zogen selbst die letzten Reste mit solcher Saugkraft nach, daß in einer Viertelstunde außer einigen alten Weibern und winselnden Kindern kein menschliches Wesen mehr in Saint Antoine zu finden war.
Nein. Sie hatten inzwischen den Gerichtssaal, in dem sich
der häßliche, boshafte alte Mann befand, gefüllt, und was nicht hineinging, hielt den anstoßenden freien Platz und die benachbarten Straßen besetzt. Die Defarges, Mann und Frau, die Rache und Jacques drei standen im Gedränge vornan und in nicht großer Entfernung von dem Gehaßten.
»Seht!« rief Madame, mit ihrem Messer auf ihn hinweisend. »Seht den alten Schurken mit Stricken gebunden. Es war gut, daß man ihm ein Bund Heu auf den Rücken geschnürt hat. Haha! Sehr gut. Er soll es jetzt fressen!«
Madame steckte ihr Messer unter den Arm und klatschte mit den Händen wie im Schauspiel.
Die hinter Madame Defarge Stehenden erklärten den weiter rückwärts Befindlichen die Ursache dieser Beifallsäußerung, und so ging die Erklärung von Mund zu Mund, bis weit hinaus zu den Straßen, wo jetzt bis an den Saum der Menschenmassen ein wütendes Klatschen erscholl. So
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