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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Tiefen und unerkannt in ihrer Kraft! Eine erbarmungslose See wild hin und her bewegter Gestalten, rachedürstender Stimmen und in dem Glutofen der Leiden so sehr gehärteter Gesichter, daß sie von keinem Mitleid mehr angerührt werden konnten.
    Aber in dem Meer der Gesichter, auf denen Trotz und Wut einen so wild lebendigen Ausdruck gewannen, gab es zwei Gruppen, je sieben an der Zahl, die so sehr gegen die übrigen abstachen, daß nie eine rollende See denkwürdigere Schiffstrümmer vor sich her getrieben hatte. Sieben Gesichter von Gefangenen, plötzlich durch den Sturm befreit, der ihre Gräber zerbrochen, wurden über den Häuptern der Menge dahingetragen; sie waren verschüchtert, verwirrt, erstaunt und verwundert, als sei der Jüngste Tag gekommen und der gräßliche Jubel um sie her gehe von den Seelen der Verdammten aus. Dann gab es noch sieben andere Gesichter – sie wurden noch höher getragen und waren die Gesichter von Toten, deren gesenkte Lider und halb sichtbare Augen des Jüngsten Tages harrten. Unbewegliche Gesichter, aber doch mit einem Ausdruck von Spannung darauf, der sich nicht auslöschen ließ; Gesichter gewissermaßen in einer schrecklichen Ruhepause nur, als wollten sie bald die gesenkten Augen wieder erheben und mit blutlosen Lippen Zeugnis ablegen: ›Das hast du getan!‹
    Sieben befreite Gefangene, sieben blutige Köpfe auf Piken, die Schlüssel zu dem fluchbeladenen Fort mit seinen acht festen Türmen, einige aufgefundene Papiere und andere Denkwürdigkeiten von Gefangenen aus alter Zeit, denen die Herzen längst im Tode gebrochen waren – dies und ähnliches mischte sich in den lauten Widerhall der Schritte, als Saint Antoine in der Mitte des Julis eintausendsiebenhundertundneunundachtzig durch die Straßen von Paris zog. O Himmel, zerstreue Lucies Phantasien und halte diese Schritte fern von ihrem Leben! Denn sie sind ungestüm, toll und gefährlich, und ihre Spur läßt sich so lange nach jener Zeit, da das Faß vor der Tür von Defarges Weinschenke barst, nicht leicht wieder säubern, wenn sie einmal rot geworden ist.
    Zweiundzwanzigstes Kapitel
    Immer höhere See
    Der ausgehungerte Saint Antoine hatte erst eine Jubelwoche durchgemacht, in der er seinen Bissen hartes bitteres Brot, so gut er konnte, mit dem Hochgenuß brüderlicher Umarmungen und Glückwünsche würzte, als Madame Defarge wieder wie gewöhnlich am Zahltisch ihren Kunden präsidierte. Sie trug keine Rose in ihrem Kopfputz, denn die große Brüderschaft der Spione war schon in dieser einen kurzen Woche so eingeschüchtert worden, daß sie es nicht wagte, sich der Gnade des Heiligen anzuvertrauen. Die Laternen in der Straße hatten einen gar zu bedeutsamen elastischen Schwung.
    Madame Defarge saß mit gekreuzten Armen in der heißen Morgensonne und betrachtete die Weinstube und die Straße. Saint Antoine sah anders aus als früher; das Bild, an dem seit
Jahrhunderten gehämmert worden, hatte durch die beendigenden Schläge der letzten Zeit mächtig an Ausdruck gewonnen.
    Madame Defarge stand beobachtend da, und in ihren Zügen las man unterdrückten Beifall, wie sich das von der Führerin der Weiber von Saint Antoine erwarten ließ. Eine aus ihrer Schar saß ihr strickend zur Seite. Diese, das kleine, gedrungene Weib eines verhungerten Krämers und Mutter von zwei Kindern, hatte sich als ihr Leutnant bereits den Ehrennamen ›die Rache‹ erworben.
    »Horch!« sagte die Rache. »Was ist das? Wer kommt?«
    Als ob eine von der äußersten Grenze des Saint-Antoine-Viertels bis zur Tür der Weinstube gelegene Zündschnur plötzlich angezündet worden wäre, wälzte sich ein rasch weitergreifendes Murmeln heran.
    »Es ist Defarge«, sagte Madame. »Still, Patriotinnen!«
    Defarge kam, die rote Mütze in der Hand, atemlos heran und sah sich um.
    »Aufgemerkt alle!« sagte Madame. »Hört ihn!«
    Defarge blieb keuchend im Vordergrunde der gierigen Augen und weit offenen Münder stehen, die sich vor der Tür draußen gesammelt hatten, während man in der Weinstube aufgesprungen war.
    »Rede, Mann! Was gibt es?«
    »Neuigkeiten aus der anderen Welt.«
    »Wie das?« versetzte Madame verächtlich. »Aus der anderen Welt?«
    »Erinnert sich jemand hier des alten Foulon, der dem verhungerten Volke zurief, es solle Gras fressen – der da starb und zur Hölle fuhr?«
    »Jedermann!« antwortete es aus allen Kehlen.
    »Die Neuigkeiten betreffen ihn. Er ist unter uns.«
    »Unter uns?« klang wieder der allgemeine Ruf:

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