Eine Geschichte aus zwei Städten
Jahre des Sturmes entschwunden. Drei weitere Geburtstage der kleinen Lucie hatte der goldene Faden in das friedliche Gewebe ihres Lebens gewoben.
Manchen Tag und manche Nacht hatten die Bewohner des stillen Winkels mit zagem Herzen auf das Echo der sich drängenden Füße gelauscht. Denn die Tritte, meinten sie, wären die eines Volkes, das unter roten Fahnen in wilder Erregung Gefahr für das Vaterland verkündete und durch einen schrecklichen Zauber, der ihm im Herzen saß, zum wilden Tier geworden war.
Monseigneur als Klasse hatte sich der Vorstellung, daß er nicht gehörig gewürdigt werde, entschlagen und einsehen gelernt, man bedürfe in Frankreich seiner so wenig, daß er selbst unter beträchtlicher Gefahr aus dem Lande und dem Leben darin fortzukommen suchte. Man erinnert sich dabei an den Bauern in der Fabel, der sich unsägliche Mühe gab, den Teufel heraufzubeschwören, durch seinen Anblick aber so erschreckt
wurde, daß er keine Frage an ihn richten konnte, sondern augenblicklich Reißaus nahm. So hatte Monseigneur dreist viele, viele Jahre das Vaterunser rückwärts gebetet und hundert andere mächtige Zaubermittel angewendet, um den bösen Geist zum Erscheinen zu zwingen, ihn aber kaum erblickt, als er schon voll edlen Entsetzens Fersengeld gab.
Der gleißende Schimmer des Hofes war fort, da er sonst die Zielscheibe eines Orkans von nationalen Kugeln geworden wäre. Sein Stolz, seine sardanapalische Üppigkeit und seine Maulwurfsblindheit hatten lange die Gemüter empört; das geschah jetzt nicht mehr. Der ganze von seinem innersten exklusiven Kern bis zu seinem äußersten Saum in Ränken, Bestechlichkeit und Heuchelei verfaulte Hof war fort und auch das Königtum dahin; man hatte den neuesten Nachrichten zufolge den König in seinem Palast belagert und abgesetzt.
Der August des Jahres eintausendsiebenhundertundzweiundneunzig war gekommen und inzwischen Monseigneur in alle vier Windrichtungen zerstreut.
In London galt natürlich Tellsons Bank als Hauptquartier und Hauptsammelplatz für Monseigneur. Man meinte, Geister spuken gern an Plätzen, wo ihre Leiber sich viel umgetrieben, und Monseigneur ohne eine Guinee spukte an dem Orte, wo sonst seine Guineen lagen. Außerdem konnte man hier am ehesten auf zuverlässige Nachrichten aus Frankreich zählen. Ferner: Tellsons war ein nobles Haus und ungemein liberal gegen heruntergekommene alte Kunden. Dann konnten bedrängte Standesgenossen hier stets über jene Adeligen Auskunft erhalten, die beizeiten den Sturm kommen sahen und in der Vorahnung von Raub und Konfiskationen ihre Wechsel an Tellsons Bank adressiert hatten. Dem ist noch beizufügen, was sich fast von selbst zu verstehen schien: daß jeder neue Ankömmling aus Frankreich sich bei Tellsons meldete und seine Nachrich
ten überbrachte. Aus diesen verschiedenen Gründen waren Tellsons in Beziehung auf die französischen Angelegenheiten eine Art hohe Börse und dem Volk in dieser Eigenschaft so wohlbekannt, daß man bisweilen, um der zahlreichen Erkundigungen willen, die neuesten Berichte gedrängt niederschrieb und zum Besten aller, die durch Temple Bar kamen, in den Bankfenstern aushängte.
An einem dunstigen nebligen Nachmittag saß Mr. Lorry an seinem Pult, und Charles Darnay, der sich dagegenlehnte, plauderte leise mit ihm. Die Gefängniszelle, die früher für Besprechungen mit dem ›Hause‹ hatte dienen müssen, war jetzt die Neuigkeitenbörse und zum Überströmen angefüllt, da in einer halben Stunde etwa geschlossen werden sollte.
»Aber obgleich Ihr noch jung seid wie nur einer«, sagte Charles Darnay mit einigem Stocken, »so muß ich Euch doch darauf aufmerksam machen …«
»Ich verstehe. Daß ich zu alt sei?« versetzte Mr. Lorry.
»Schlechtes Wetter, eine weite Reise, unsichere Reisegelegenheiten, ein gesetzloses Land und eine Stadt, die vielleicht nicht einmal Euch ungefährdet läßt.«
»Mein lieber Charles«, sagte Mr. Lorry mit heiterer Zuversicht, »Ihr berührt da einige von den Gründen, die für mein Gehen, nicht für mein Bleiben sprechen. Ich reise sicher genug; niemand wird sich um einen alten Burschen nahe der Achtzig kümmern, wo es so viele Leute gibt, mit denen es sich eher der Mühe des Anbindens lohnt. Und wenn man es nicht mit einer gesetzlosen Stadt zu tun hätte, so brauchte man nicht jemand aus unserem hiesigen Hause, der von alters her die Stadt und den Geschäftsgang kennt und Tellsons Vertrauen genießt, nach unserem dortigen zu senden. Was dann
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