Eine Geschichte aus zwei Städten
Menschen.«
»Wirklich? Ha, beim Jupiter, das tut mir leid«, versetzte Stryver.
»Warum?«
»Warum, Mr. Darnay? Hört Ihr nicht, was er getan hat? Wer wird auch so fragen in solchen Zeiten!«
»Dennoch frage ich.«
»Dann will ich Euch abermals sagen, Mr. Darnay, daß es mir leid tut. Ich bedaure, aus Eurem Munde solche außerordentliche Fragen vernehmen zu müssen. Wir haben da einen Kerl, der, angesteckt von dem pestilenzialischsten und gotteslästerlichsten Kodex, den je der Teufel ersann, sein Familiengut dem schändlichsten Abschaum der Erde preisgab, der je im großen mordete, und Ihr fragt mich, warum ich bedaure, daß ein Mann ihn kennt, der die Jugend unterrichtet? Gut; Ihr sollt meine Antwort haben. Es tut mir leid, weil ich glaube, daß der Umgang mit einem solchen Wicht ansteckend ist. Da habt Ihr das Warum.«
Eingedenk seines Versprechens hielt Darnay mit Mühe an sich und erwiderte:
»Möglich, daß Ihr den Gentleman nicht versteht.«
»Jedenfalls verstehe ich, Euch in die Enge zu treiben, Mr. Darnay«, sagte Stryver trotzig, »und das soll geschehen. Wie dieser Kerl ein Gentleman sein soll, begreife, wer da will. Ihr könnt ihm das mit meinem Respekt vermelden und ihm zugleich von mir aus sagen, es wundere mich nur, daß er nicht an der Spitze des mordbrennerischen Pöbels steht, nachdem er ihm seine zeitlichen Güter und seine Stellung überlassen hat. Doch nein, meine Herren«, fügte er hinzu, indem er in der Runde umherschaute und mit den Fingern schnippte, »ich verstehe mich auf die Menschennatur und sage euch, ihr werdet nie bei einem Kerl von seinem Schlage finden, daß er sich der Gnade solcher kostbaren Schützlinge anvertraut. Nein, mei
ne Herren, ihr dürft darauf zählen, daß er ihnen gleich im Anfang des Kampfes ein sauberes Paar Fersen zeigte und sich davonschlich.«
Mit diesen Worten und einem letzten Fingerschnalzen drängelte sich Mr. Stryver unter dem allgemeinen Beifall seiner Zuhörer auf die Fleetstraße hinaus. Nach dem allgemeinen Aufbruch der Bank blieben nur noch Mr. Lorry und Charles Darnay an dem Pult zurück.
»Wollt Ihr den Brief besorgen?« sagte Mr. Lorry. »Ihr werdet wissen, wo man ihn abliefern muß.«
»Ja.«
»Wollt Ihr dem Adressanten auch zu wissen tun, daß wir vermuten, er sei in der Voraussetzung hierher gesandt worden, daß wir vielleicht die Besorgung vermitteln können, und habe schon einige Zeit hier gelegen?«
»Soll geschehen. Tretet Ihr von hier aus die Reise nach Paris an?«
»Von hier aus, um acht Uhr.«
»Ich komme wieder her, um Euch adieu zu sagen.«
Sehr unzufrieden mit sich selbst und aufgebracht gegen Stryver und viele andere, zog sich Darnay in die Stille des Temples zurück, erbrach den Brief und las. Der Inhalt lautete wie folgt:
Abteigefängnis, Paris, den 21. Juni 1792.
Weiland Herr Marquis!
Nachdem ich lange Zeit unter der Bevölkerung des Dorfes in Lebensgefahr geschwebt habe, bin ich gewaltsam und in höchst unwürdiger Weise zu Fuß den weiten Weg nach Paris transportiert worden. Auf dem Marsch hatte ich viel zu leiden. Aber dies ist nicht alles. Mein Haus wurde zerstört und vom Erdboden getilgt.
Das Verbrechen, um dessentwillen ich im Gefängnis sitze,
vor Gericht gestellt werden soll und ohne Eure großmütige Hilfe, weiland Herr Marquis, der Todesstrafe entgegensehe, wird als Verrat an der Majestät des Volkes bezeichnet, gegen die ich mich durch mein Handeln für einen Emigranten versündigt haben soll. Vergeblich machte ich geltend, daß ich Euren Befehlen gemäß für das Volk und nicht gegen dasselbe handelte. Vergeblich stellte ich vor, daß ich schon vor Sequestration des Emigranteneigentums die rückständigen Abgaben erlassen, keine Grundrente erhoben und nach keiner Seite hin einen Prozeß angefangen habe. Die ständige Erwiderung lautet, ich habe für einen Emigranten gehandelt, und man wolle wissen, wo dieser Emigrant sei.
Ach, gnädigster weiland Herr Marquis, wo ist dieser Emigrant? Ich rufe in meinem Schlafe nach ihm und flehe zum Himmel, daß er komme und mich befreie. Keine Antwort. Ach, weiland Herr Marquis, ich sende meinen trostlosen Schrei über das Meer in der Hoffnung, er könnte durch die große, auch in Paris bekannte Bank von Tellsons Euch zu Ohren kommen.
Um Gottes, um der Gerechtigkeit, um der Ehre Eures edlen Namens willen flehe ich Euch an, großmütigster weiland Herr Marquis, mir beizuspringen und mich zu erlösen. Mein Verbrechen ist, daß ich Euch treu war. Oh, weiland Herr
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