Eine Geschichte aus zwei Städten
Ruhepunkte für ein dürftiges Mahl oder für den Schlaf gewährten, sollen ungeschildert bleiben. Die wahnsinnige Freude über die Gefangenen, die gerettet worden waren, hatte ihn kaum weniger betäubt als die wahnsinnige Wildheit, mit der man die anderen in Stücke hieb. Ein Gefangener sei dort gewesen, sagte er, den man entlassen habe, gegen den aber irrtümlich einer von den Mördern beim Hinausgehen einen Pikenstoß führte. Der Doktor war ersucht worden, zu ihm zu gehen und seine Wunde zu verbinden: als er aber zu demselben Tore hinauskam, fand er ihn in den Armen einer Gesellschaft von Samaritern, die auf den Leichen ihrer Opfer saßen. Mit einer Inkonsequenz, die so ungeheuerlich war wie irgend etwas in diesem schrecklichen nächtlichen Traum, hatten sie dem Arzte willige Handreichung getan, den Verwundeten mit der größten Sorgfalt gepflegt, eine Tragbahre für ihn gemacht und ihn mit aller
Behutsamkeit fortgeschafft, dann aber wieder ihre Waffen aufgegriffen und aufs neue so blutdürstig dreingeschlagen, daß der Doktor die Augen mit den Händen bedeckte und diesen Greueln gegenüber ohnmächtig wurde.
Während Mr. Lorry diese vertrauliche Mitteilung anhörte, beobachtete er sorgsam das Gesicht seines jetzt zweiundsechzigjährigen Freundes, und in seinem Innern regte sich die Furcht, solche schreckliche Erlebnisse könnten das alte Übel wieder aufwühlen; aber er hatte Doktor Manette nie so gesehen wie jetzt; er hatte noch nie das erkannt, was nun in ihm war. Jetzt zum ersten Mal fühlte der Doktor, daß seine früheren Drangsale ihm Kraft und Macht verliehen; zum ersten Mal fühlte er, daß er in jenem scharfen Feuer langsam das Eisen geschmiedet, mit dem er die Tür zu dem Gefängnis des Gatten seiner Tochter erbrechen und ihn in Freiheit setzen konnte. »Alles hat sich zum Besten gefügt, mein Freund, und nichts ist umsonst und verloren gewesen. Wie mein geliebtes Kind dazu behilflich war, mich mir selbst zurückzugeben, so will ich mich jetzt bemühen, ihr den teuersten Teil ihres Ichs wieder zu verschaffen, und unter Gottes Beistand wird es mir gelingen!« So Doktor Manette. Und Jarvis Lorry mußte ihm wohl glauben, wenn er die leuchtenden Augen, das entschlossene Gesicht, den ruhigen Blick und die kräftige Haltung des Mannes betrachtete, dessen Leben ihm stets wie ein Uhrwerk vorgekommen war, das man für eine lange Reihe von Jahren angehalten hatte und das, nun es wieder im Gange war, eine gesteigerte Energie aus dem langen Schlummer seiner nützlichen Kräfte gewann.
Selbst größere Kämpfe, als der Doktor damals zu bestehen hatte, würden sich an der Festigkeit seines Willens gebrochen haben. Seine Stellung als Arzt benutzend, die es ihm zur Pflicht machte, mit Menschen aller Art, Gefangenen und Freien, Rei
chen und Armen, Guten und Bösen, zu verkehren, wußte er seinen persönlichen Einfluß so weise zu benutzen, daß er bald zum Inspektionsarzt von drei Gefängnissen, darunter La Force, ernannt wurde. Er konnte nun Lucie die Versicherung geben, daß ihr Gatte sich nicht mehr in Einzelhaft, sondern unter den übrigen Gefangenen befand; er sah Charles alle Wochen und konnte ihr Liebesbotschaften von seinen eigenen Lippen bringen; bisweilen wußte Charles sogar ihr ein Briefchen zuzustellen, obschon nie durch des Doktors Hand; aber sie durfte ihm nicht darauf antworten, denn die wilde Furcht vor Gefängniskomplotten richtete sich besonders gegen jene Emigranten, von denen man wußte, daß sie im Ausland Freunde gewonnen hatten oder dauernde Verbindungen dorthin eingegangen waren.
Das neue Leben des Doktors war ohne Zweifel sehr sorgenvoll, aber der schlaue Mr. Lorry bemerkte bald, daß ihn dabei ein gewisser Stolz aufrechterhielt. Es war ein natürlicher, ein ehrenwerter Stolz, frei von allem Ungehörigen; aber doch kam er ihm merkwürdig vor. Der Doktor wußte, daß die Tochter und der Freund mit seiner Gefangenschaft bisher stets das Bild seiner geistigen Verwirrung, seiner Entbehrungen und seiner Schwäche in Verbindung gebracht hatten. Da dies anders war und er sich um seiner alten Prüfungen willen mit Kräften gerüstet sah, von denen sich beide die endliche Rettung und Befreiung Darnays versprachen, fühlte er sich durch den Wechsel so gehoben, daß er die Leitung von allem übernahm und von ihnen, den Schwachen, verlangen konnte, ihm, dem Starken, zu vertrauen. Das Verhältnis zwischen ihm und Lucie hatte sich umgekehrt, jedoch nur, soweit das bei seinem Gefühl innigster Dankbarkeit
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