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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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möglich war; denn sein höchstes Glück bestand darin, ihr, die ihm so viel geopfert hatte, einige Dienste zu leisten. ›Ganz merkwürdig anzusehen‹, dach
te Mr. Lorry in seiner gemütlich schlauen Weise, ›aber ganz natürlich und in der Ordnung. So nimm nur das Steuer, mein lieber Freund, und halt es fest; es könnte in keinen besseren Händen sein.‹
    Aber obgleich sich der Doktor unablässig alle Mühe gab, die Befreiung von Charles Darnay durchzusetzen oder es wenigstens dahin zu bringen, daß er vor Gericht gestellt wurde, war doch die Flut der Zeit zu schnell und zu mächtig für ihn. Die neue Ära begann. Der König wurde gerichtet, verurteilt und enthauptet; die Republik mit dem Wahlspruch ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod‹ erklärte sich für einen Kampf auf Leben und Tod gegen die Waffen einer ganzen Welt; das schwarze Banner flatterte Tag und Nacht über den hohen Türmen von Notre-Dame; dreimalhunderttausend Mann, die gegen die Tyrannen der Erde aufgeboten waren, erhoben sich in den verschiedenen Teilen Frankreichs, als seien überall mit breiten Würfen die Drachenzähne gesät worden und gleich gut gediehen auf dem Berge und in der Ebene, im Fels und im Schlamm, unter dem klaren Himmel des Südens wie unter den Wolken des Nordens, in Feld und Wald, in Weinbergen und Ölgärten, unter dem gemähten Gras und den Stoppeln des Ackers, die fruchtbaren Ufer der breiten Flüsse entlang und im Sande der Meeresküste. Welche Einzelsorge konnte wohl aufkommen gegen die Sintflut des Jahres 1 der Freiheit – gegen eine Sintflut, die aus den Tiefen emporstieg, nicht von oben her kam, und sich nicht wieder zerteilte, als sich die Schleusen des Himmels schlossen.
    Da war kein Halten, kein Erbarmen, kein Friede, keine Ruhepause, kein Zeitmaß. Obgleich Tag und Nacht so regelmäßig einander folgten wie in der Jugend der Zeit, als aus Abend und Morgen der erste Tag ward, gab es darüber hinaus keine Zeitrechnung. Der Anhaltspunkt dafür war in dem tobenden
Fieber einer Nation verlorengegangen wie in dem Fieber eines Kranken. Jetzt zeigte, die unnatürliche Stille einer ganzen Stadt unterbrechend, der Henker dem Volke den Kopf eines Königs – und jetzt (es schien fast in demselben Atem zu geschehen) das Haupt seiner schönen Witwe, das in acht langen Monaten der Gefangenschaft und des Elends Zeit gehabt hatte, grau zu werden.
    Und doch – wie seltsam macht sich das Gesetz des Widerspruchs in allen solchen Fällen geltend – war die Zeit lang, die so schnell dahinfuhr. Ein revolutionäres Tribunal in der Hauptstadt und vierzig- oder fünfzigtausend revolutionäre Komitees über das ganze Land; ein Gesetz gegen Verdächtige, das mit einem Federzug alle Sicherheit für Freiheit oder Leben und die Guten und Unschuldigen mit den Schlechten und Schuldigen austilgte; Gefängnisse gepfropft voll mit Leuten, die kein Verbrechen begangen hatten und doch kein Gehör finden konnten: das waren lauter Dinge, die zur Tagesordnung und schon nach einigen Wochen zu selbstverständlichen Bräuchen wurden, als stammten sie aus unvordenklichen Zeiten her. Vor allem aber gewöhnte man sich schnell an eine gräßliche Gestalt so sehr, als sei sie schon mit der Schöpfung der Welt ins Dasein getreten: an die Gestalt des scharfen Frauenzimmers, Guillotine genannt.
    Sie war das populäre Thema für Scherze. Man nannte sie das beste Mittel gegen Kopfweh, ein untrügliches Präservativ gegen das Grauwerden der Haare. Sie verlieh dem Teint eine eigentümliche Zartheit und war das Nationalrasiermesser, das am schärfsten rasierte. Wer die Guillotine küßte, guckte durch das kleine Fenster und nieste in den Sack. Sie war das Zeichen für die Wiedergeburt des Menschengeschlechts und hatte das Kreuz ersetzt. Medaillen mit ihrem Bilde wurden auf der Brust getragen, von der das Kreuz entfernt worden war; man
beugte sich vor ihr und glaubte an sie, während man von dem Kreuze nichts mehr wissen wollte.
    Sie schor so viele Köpfe ab, daß sie und der Boden, den diese am meisten befleckten, von moderndem Rot starrten. Man zerlegte sie in Stücke, wie ein Spielzeug für einen jungen Teufel, und setzte sie wieder zusammen, wenn sich Gelegenheit zu ihrem Gebrauch ergab. Sie brachte den Beredten zum Schweigen, schlug den Mächtigen nieder und vernichtete die Schönheit und die Tugend. Zweiundzwanzig Freunden von hoher öffentlicher Stellung, einundzwanzig lebenden und einem toten, hatte sie an einem Morgen in ebenso vielen Minuten

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