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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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darauf zu antworten: »Nichts kann ihm zustoßen ohne mein Vorwissen, und ich weiß, daß ich ihn zu retten vermag, Lucie.«
    Sie hatten in dieser veränderten Lebensweise noch nicht viele Wochen verbracht, als ihr Vater eines Abends beim Nachhausekommen zu ihr sagte:
    »Meine Liebe, in dem Gefängnis ist oben ein Fenster, an das Charles bisweilen um drei Uhr nachmittags treten kann. Wenn er hinkommt – dies hängt freilich von manchen Ungewißheiten und Zufälligkeiten ab –, so meint er, dich auf der Straße sehen zu können, wenn du dich an einem gewissen Platz aufstellst, den ich dir zeigen will. Du wirst ihn freilich nicht sehen, mein armes Kind, und selbst wenn es der Fall wäre, würde es nicht rätlich sein, ein Zeichen des Erkennens zu geben.«
    »Oh, zeigt mir den Platz, Vater, und ich will jeden Tag hingehen!«
    Von dieser Zeit an wartete sie dort bei jedem Wetter täglich zwei Stunden. Sobald die Glocke zwei schlug, war sie an der Stelle, und um vier Uhr entfernte sie sich wieder voll Ergebung. Wenn es für ihr Kind nicht zu naß oder zu kalt war, so gingen sie miteinander; zu anderen Zeiten tat sie es allein; unter allen Umständen aber blieb sie selbst keinen Tag aus.
    Es war die dunkle schmutzige Ecke einer krummen Straße. Die Hütte eines Holzhackers stellte an diesem Ende die einzige wohnliche Stätte dar; alles übrige war Mauer. Am dritten Tage fiel dem Mann ihre Anwesenheit auf.
    »Guten Tag, Bürgerin.«
    »Guten Tag, Bürger.«
    Diese Art der Anrede war jetzt durch ein Dekret vorgeschrieben. Die überzeugten Patrioten hatten sich ihrer schon einige Zeit vorher bedient, aber jetzt war sie Gesetz für jedermann.
    »Wieder hierher einen Spaziergang gemacht, Bürgerin?«
    »Wie Ihr seht, Bürger.«
    Der Holzhacker, ein kleiner Mann mit einem lebhaften Ge
bärdenspiel (er war früher Steinklopfer gewesen), warf einen Blick nach dem Gefängnis, deutete danach hin, hielt seine zehn Finger wie Gitterwerk vor das Gesicht und schaute spaßhaft hindurch.
    »Geht mich aber nichts an«, sagte er und ging seinem Gewerbe nach.
    Am anderen Tag sah er sich wieder nach ihr um und redete sie an, sobald sie erschien.
    »Wie, schon wieder einen Spaziergang, Bürgerin?«
    »Ja, Bürger.«
    »Ah, und ein Kind dazu! Dies ist wohl deine Mutter, meine kleine Bürgerin?«
    »Soll ich ja sagen, Mama?« flüsterte die kleine Lucie, sich dicht an sie schmiegend.
    »Ja, mein Kind.«
    »Ja, Bürger.«
    »Ah! Aber es geht mich nichts an. Ich kümmere mich nur um meine Arbeit. Seht meine Säge da – ich nenne sie meine kleine Guillotine. Ratsch, ratsch, ratsch; ratsch, ratsch, ratsch! Und herunter ist sein Kopf!« Während er so sprach, fiel das Scheit, und er warf es in einen Korb.
    »Ich nenne mich den Samson der Brennholzguillotine. Schaut wieder her. Ritsch, ritsch, ritsch; ritsch, ritsch, ritsch! Und ihr Kopf ist gefallen! Jetzt ein Kind. Retsche, retsche; retsche, retsche! Da kommt sein Kopf. Die ganze Familie!«
    Lucie schauderte, als er zwei weitere Scheite in seinen Korb warf; aber wenn der Holzhacker dort arbeitete, mußte sie notwendig von ihm gesehen werden. Sie redete ihn daher, um sich seine Geneigtheit zu sichern, immer zuerst an und gab ihm auch öfters ein Trinkgeld, was er sich recht gern gefallen ließ.
    Er war ein neugieriger Bursche, und wenn sie bisweilen im Aufschauen nach dem Dache und den Gittern des Gefängnis
ses, in der Erhebung ihres Herzens zu dem Gatten seiner ganz vergessen hatte, konnte sie auf einmal bemerken, daß er, das Knie auf seine Bank gestützt und die Säge mitten in der Arbeit ruhen lassend, ihr zusah. »Geht mich aber nichts an«, pflegte er bei solchen Gelegenheiten zu sagen und ließ dann wieder hurtig seine Säge gehen.
    Bei jedem Wetter, im Schnee und Winterfrost, in den schneidenden Frühjahrswinden, im heißen Sommersonnenschein, im Herbstregen und wieder im Schnee und Winterfrost verbrachte Lucie jeden Tag zwei Stunden an diesem Platze, und jeden Tag küßte sie, ehe sie sich entfernte, die Gefängnismauer. Ihr Gatte sah sie, wie sie von ihrem Vater erfuhr, einmal unter fünf oder sechs Malen, vielleicht auch zwei- oder dreimal hintereinander, dann aber wieder eine Woche oder zwei gar nicht. Es war genug, daß er sie sehen konnte, wenn er Gelegenheit dazu fand, und ergab sich diese auch nur einmal in der Woche, so machte sie um der Möglichkeit willen doch gern jeden Tag diesen Gang.
    So verging der Monat Dezember, und ihr Vater wandelte noch immer gleichmütig unter den

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