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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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die Köpfe abgehauen. Der Name Samsons, des starken Mannes im Alten Testament, war auf den Hauptwürdenträger übergegangen, der sie spielen ließ; und mit dieser Waffe war er stärker als sein Namensvetter und blinder; denn er riß jeden Tag die Pforten von Gottes eigenem Tempel weg.
    Unter diesen Schrecken ging der Doktor ruhigen Mutes umher; er vertraute seiner Macht, verfolgte behutsam seinen Zweck und zweifelte keinen Augenblick daran, daß es ihm endlich gelingen werde, Lucies Gatten zu retten. Aber der Strom der Zeit wühlte so schnell und tief und riß die Zeit so ungestüm mit sich fort, daß Charles schon ein Jahr und drei Monate im Gefängnis gesessen hatte, ohne daß der Doktor sich in seinem zuversichtlichen Vertrauen beirren ließ. In jenem Dezembermonat war die Revolution um so viel grauenvoller und unsinniger geworden, daß die Flüsse des Südens anschwollen von den Leichen der gewaltsam Ertränkten und die Gefangenen in Reihen und Vierecken niedergeschossen wurden unter der südlichen Wintersonne. Gleichwohl ging der Doktor gleichmütig unter den Schrecken umher. Niemand war zu jener Zeit besser in Paris bekannt als er; und niemand befand sich in einer befremdlicheren Lage. Still, menschenfreundlich,
unentbehrlich im Spital und im Gefängnis und seine Kunst mit gleichem Eifer übend an dem Meuchelmörder und dem Opfer, nahm er eine Ausnahmestellung ein. Bei der Ausübung seines ärztlichen Berufes hob ihn das Aussehen und die Geschichte des Bastillegefangenen über alle anderen Menschen. Er wurde ebensowenig beargwöhnt oder in Untersuchung gezogen, als sei er in der Tat vor achtzehn Jahren wirklich vom Tode erweckt worden oder als wandle er als ein Geist unter den Sterblichen.
    Fünftes Kapitel
    Der Holzhacker
    Ein Jahr und drei Monate. Während dieser ganzen Zeit war Lucie keinen Augenblick sicher, ob nicht am anderen Tage die Guillotine ihrem Gatten den Kopf abschlüge. Jeden Tag holperten schwerfällig die mit Verurteilten gefüllten Karren durch die gepflasterten Straßen. Liebliche Mädchen; glänzende Frauen, braunhaarig, schwarzhaarig und grau; Jünglinge, Männer und Greise; Hochgeborene und Geringe – alles roter Wein für La Guillotine, alles täglich ans Licht gefördert aus den dunklen Kellern der ekligen Gefängnisse und durch die Straßen geführt, um ihren brennenden Durst zu stillen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod – dieser aber ist am leichtesten zu erringen, o Guillotine!
    Wenn die Plötzlichkeit des Unglücks und die wirbelnden Räder der Zeit die eines Erfolges harrende Tochter zu dumpfer Verzweiflung getrieben hätten, so wäre es ihr ergangen wie so vielen; aber von der Stunde an, als sie in dem Dachstübchen von Saint Antoine das weiße Haupt an ihre frische jun
ge Brust gedrückt, hatte sie unwandelbar den übernommenen Pflichten nachgelebt und blieb ihnen namentlich treu in der Zeit der Heimsuchung, wie es stets bei treuen und guten stillen Seelen der Fall ist.
    Sobald die neue Wohnung eingerichtet war und ihr Vater sich in seinen Beruf wieder hineingefunden hatte, ordnete sie ihren kleinen Haushalt geradeso, als ob ihr Mann anwesend sei. Alles hatte seinen bestimmten Platz und seine bestimmte Zeit. Sie unterrichtete die kleine Lucie regelmäßig, als wären sie noch in ihrer englischen Heimat. Die kleinen Kunstgriffe, mit denen sie sich in den Wahn hineintäuschte, daß sie bald wieder vereinigt sein würden, die leichten Vorbereitungen für seine baldige Rückkehr, das Herrichten seines Stuhls und seiner Bücher – dies und das feierliche Nachtgebet namentlich für einen lieben Gefangenen unter den vielen unglücklichen Seelen, die im Gefängnis und unter dem Schatten des Todes lebten, waren fast die einzigen ausgesprochenen Tröstungsmittel ihres schweren Herzens.
    In ihrem Äußeren zeigte sie keine besondere Veränderung. Die einfachen schwarzen, an Trauer mahnenden Kleider, die sie und ihr Kind trugen, waren so sauber und ordentlich wie in glücklicheren Tagen ihr hellerer Anzug. Sie sah bleich aus, und der alte ernste Zug in ihrem Gesicht kam nicht mehr nur gelegentlich, sondern war beständig geworden; in jeder andern Beziehung aber konnte man sie noch immer sehr hübsch und anmutig nennen. Bisweilen ließ sie abends, wenn sie ihren Vater küßte, ihren den ganzen Tag über unterdrückten Schmerz zum Ausbruch kommen, wobei sie ihm versicherte, daß er ihre einzige Stütze und Zuversicht sei unter der Sonne. Und dann pflegte er mit Entschiedenheit

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