Eine Geschichte aus zwei Städten
viel Rücksicht genommen. Haben wir nicht oft genug gesehen, wie man ihre Gatten und Väter ins Gefängnis warf und von ihnen getrennt hielt? Sind wir nicht unser Leben lang Zeugen gewesen, daß man Weiber und Kinder der Armut, der Blöße, dem Hunger,
dem Durst, der Krankheit und dem Elend, kurz Bedrückungen und Vernachlässigungen aller Art preisgab?«
»Wir haben nichts anderes gesehen«, versetzte die Rache.
»Wir haben dies lange Zeit ertragen«, fuhr Madame Defarge fort, indem sie den Blick wieder zu Lucie senkte. »Urteilt selbst, ob die Not eines Weibes und einer Mutter uns jetzt sonderlich anfechten kann.«
Sie nahm ihr Strickzeug wieder auf und entfernte sich. Die Rache folgte. Defarge war der letzte und machte die Tür hinter sich zu.
»Mut, meine teure Lucie!« sagte Mr. Lorry, indem er sie aufrichtete. »Mut, Mut! Bis jetzt ist alles gutgegangen – viel, viel besser, als es in den letzten Tagen so vielen armen Seelen erging. Verzagt nicht, sondern dankt vielmehr dem Himmel.«
»Ich hoffe, daß ich nicht undankbar bin; aber dieses schreckliche Weib scheint einen Schatten auf mich und alle meine Hoffnungen zu werfen.«
»Nur ruhig!« sagte Mr. Lorry. »Wozu dieser Kleinmut in Eurem tapferen Herzen? Ein Schatten – ja; aber auch nur ein wesenloser Schatten, Lucie.«
Aber der Schatten in dem Benehmen der Defarge lagerte doch auch auf ihm düster genug, und seine Seele fühlte sich tief bekümmert.
Viertes Kapitel
Windstille im Sturm
Doktor Manette kehrte erst am Morgen des vierten Tages seiner Abwesenheit zurück. Was sich von den Vorfällen jener schrecklichen Zeit vor Lucie geheimhalten ließ, blieb ihr sorg
fältig verborgen, und sie wußte noch lange nachher, nachdem sie sich für immer von Frankreich getrennt hatte, nicht, daß weit über tausend wehrlose Gefangene jedes Geschlechts und Alters ermordet worden waren, daß dieses entsetzliche Schlachten vier Tage und vier Nächte gewährt hatte und daß die Luft um sie her den schrecklichen Geruch eines Leichenfeldes in sich barg. Was sie wußte, beschränkte sich darauf, daß ein Angriff auf die Gefängnisse gemacht worden sei, der alle politischen Gefangenen in Gefahr brachte, und daß das Volk einige herausgerissen und ermordet habe.
Dem Mr. Lorry teilte der Doktor unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, daß man ihn durch eine Szene des Gemetzels nach dem Gefängnis La Force gebracht habe. Dort sei von einem Gerichtshof, dessen Mitglieder sich selbst ernannt hatten, Sitzung gehalten worden; man habe die Gefangenen einzeln vorgeführt und in aller Eile entschieden, ob sie sofort abgetan, in Freiheit gesetzt oder, wie bei einigen wenigen geschah, wieder in ihre Zellen zurückgebracht werden sollten. Durch seine Führer dem Tribunal vorgestellt, habe er seinen Namen und Beruf genannt und sich als einen Bastillegefangenen zu erkennen gegeben, den man ohne Urteil und Recht achtzehn Jahre eingekerkert. Von den Richtern sei sodann einer aufgestanden und habe seine Identität bezeugt, nämlich Defarge.
Nachdem er aus den auf dem Tische liegenden Listen die Überzeugung gewonnen, daß sein Schwiegersohn noch unter den lebenden Gefangenen sei, habe er für dessen Leben und Freiheit eine bewegliche Bitte an das Tribunal gerichtet. Bei den ersten wilden Begrüßungen, mit denen man ein so denkwürdiges Opfer des gestürzten Systems überschüttete, sei ihm zugestanden worden, daß Charles Darnay vor den Gerichtshof gebracht und verhört werde. Auch habe dem Anschein nach
wenig zu seiner alsbaldigen Befreiung gefehlt; aber dann sei ein Hindernis (welcher Art dieses gewesen, hatte der Doktor nicht aufklären können) dazwischengetreten, das eine kurze geheime Besprechung zur Folge hatte. Der Präsident des Tribunals habe sodann Doktor Manette erklärt, der Gefangene müsse in Haft bleiben, solle aber um seinetwillen in einen sicheren, unverletzlichen Gewahrsam kommen. Der Gefangene sei auf ein Zeichen sogleich wieder in das Innere des Gefängnisses zurückgeführt worden; er aber, der Doktor, habe dann dringend um die Erlaubnis gebeten, bei seinem Schwiegersohn bleiben und sich persönlich davon überzeugen zu dürfen, daß dieser weder aus Haß noch aus Zufall in die Hände der wütenden Menge gerate, deren mordgieriges Geschrei vor dem Tore draußen die Verhandlungen so oft unterbrach. Nachdem ihm hierin willfahrt worden, sei er in dem Bluthause geblieben, bis die Gefahr vorüber gewesen.
Die Auftritte, die er dort erlebte und die nur kurze
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