Eine Geschichte aus zwei Städten
das Blatt in ihrem Busen verbergen wollte, hielt sie, die Hände bereits an ihrem Hals, plötzlich inne und schaute angstvoll auf Madame Defarge. Diese setzte der gefurchten Stirn einen kalten, teilnahmslos starren Blick entgegen.
»Meine Liebe«, sagte Mr. Lorry, zur Erklärung das Wort nehmend, »es gibt häufig Unruhen auf den Straßen, und obgleich es nicht wahrscheinlich ist, daß Ihr dadurch gefährdet werden könntet, so wünscht doch Madame Defarge diejenigen zu sehen, die sie in solchen Zeiten zu beschützen die Macht hat, damit sie sie kenne und ihre Identität zu beweisen imstande sei. Ich glaube«, sagte Mr. Lorry, in seinen beruhigenden Worten innehaltend, da ihm das eisige Benehmen der drei mehr und mehr auffiel, »daß dies der Zweck des Besuchs ist, Bürger Defarge?«
Defarge warf einen düsteren Blick auf sein Weib und antwortete nur mit einem dumpfen Ton, den man für eine Bejahung nehmen konnte.
»Es wird gut sein, Lucie«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er in Ton und Benehmen alles aufbot, um eine freundlichere Stimmung herzustellen, »wenn Ihr das liebe Kind und die gute Proß herkommen laßt. Unsere gute Proß ist eine Engländerin, Defarge, und versteht nicht Französisch.«
Die fragliche Dame, die der festen Überzeugung lebte, daß
sie es mit jeder Ausländerin aufnehmen könne, ließ sich weder durch Bedrängnis noch durch Gefahr einschüchtern; sie trat mit gekreuzten Armen ein und bemerkte gegen die Rache, die ihren Blicken zuerst begegnete, in englischer Sprache:
»Weiß Gott, eine dreiste Person! Ich hoffe, es geht Euch gut.«
Dann beehrte sie Madame Defarge mit einem britischen Hüsteln; aber keines von den beiden Weibern schenkte ihr sonderliche Beachtung.
»Ist dies das Kind?« sagte Madame Defarge, zum ersten Mal in ihrer Arbeit innehaltend und mit der Stricknadel, als sei sie der Finger des Schicksals, auf die kleine Lucie deutend.
»Ja, Madame«, antwortete Mr. Lorry. »Dies ist das Töchterchen und das einzige Kind des armen Gefangenen.«
Der Schatten, der auf Madame Defarge und ihrer Begleitung ruhte, schien so finster und drohend auf das kleine Wesen niederzufallen, daß die Mutter unwillkürlich neben ihm auf dem Boden niederkniete und es an ihre Brust drückte. Und der Schatten auf Madame Defarge und den beiden anderen traf nun drohend und finster Mutter und Kind zumal.
»Es ist genug, Mann«, sagte Madame Defarge. »Ich habe sie gesehen. Wir brauchen nicht länger zu bleiben.«
Aber das abgemessene Wesen hatte genug Drohendes in sich – nicht deutlich ausgesprochen, wohl aber unbestimmt und verhalten –, so daß die Unruhe Lucie, die mit flehender Gebärde das Kleid der Madame Defarge erfaßte, die Worte eingab:
»Ihr werdet gütig sein gegen meinen armen Gatten. Ihr werdet ihm nichts zuleide tun. Wollt Ihr mir, wenn Ihr könnt, behilflich sein, ihn zu sehen?«
»Ich habe hier nichts mit Eurem Gatten zu schaffen«, entgegnete Madame Defarge, mit vollkommener Fassung auf sie niederschauend. »Die Tochter Eures Vaters ist's, die mich hergeführt hat.«
»So seid um meintwillen barmherzig gegen meinen Mann – um meines Kindes willen! Sie soll ihre Händchen zusammenlegen und Euch um Erbarmen bitten. Wir fürchten uns mehr vor Euch als vor diesen anderen.«
Madame Defarge nahm dies als ein Kompliment auf und sah ihren Mann an. Defarge, der inzwischen unruhig auf seinen Daumennagel gebissen hatte, erwiderte ihren Blick und suchte seinem Gesicht einen strengeren Ausdruck zu geben.
»Was schreibt Euch Euer Mann in seinem Billett?« fragte Madame Defarge mit einem lauernden Lächeln. »Einfluß – sagt er etwas von Einfluß?«
»Ja, daß mein Vater Einfluß habe auf seine Umgebung«, versetzte Lucie, die hastig den Zettel hervorzog, aber den geängstigten Blick nicht auf die Zeilen warf, sondern ihn unverwandt auf der Fragerin haften ließ.
»So wird er ihm zuverlässig loshelfen«, sagte Madame Defarge. »Mag es so kommen!«
»Als Gattin und Mutter flehe ich Euch an«, rief Lucie aus tiefster Seele, »habt Erbarmen mit mir und gebraucht die Gewalt, die Ihr besitzt, nicht gegen, sondern für meinen unschuldigen Mann. Ihr seid auch ein Weib – erbarmt Euch der Gattin und der Mutter!«
Madame Defarge schaute kalt wie immer auf die Flehende nieder und sagte, indem sie sich an ihre Freundin, die Rache, wandte:
»Auf die Weiber und Mütter, die wir seit der Zeit gesehen haben, als wir noch so klein wie dieses Kind oder noch kleiner waren, hat man im allgemeinen nicht
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