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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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gefährdete, so ging Mr. Lorry mit Lucie zu Rate. Sie sagte, ihr Vater habe davon gesprochen, für kurze Zeit in der Nähe des Bankhauses eine Wohnung zu mieten. Da sich hiergegen nichts einwenden ließ und der wackere Alte voraussah, daß Charles, wenn alles gutging und er in Freiheit gelangte, doch nicht hoffen durfte, aus der Stadt fortzukommen, so machte er sich auf den Weg, um ein geeignetes Quartier zu suchen, das er dann auch richtig hoch oben in einer abgelegenen Nebenstraße fand, wo die geschlossenen Jalousien eines melancholischen Gebäudevierecks lauter verlassene Wohnungen anzeigten.
    Dahin schaffte er nun ohne Säumen Lucie mit ihrem Kind
und Miß Proß, indem er ihnen mehr Trost mit auf den Weg gab, als er selbst hatte. Er ließ Jerry bei ihnen, der, wenn er sich unter die Tür stellte, schon einen Puff aushalten konnte, und kehrte an seine Arbeit zurück. Freilich brachte er eine verstörte, traurige Stimmung mit, und es wollte mit seiner Arbeit gar nicht recht vorwärtsgehen.
    Der Tag verging, und er selbst schleppte sich so hin, bis er endlich die Bank schließen konnte. Er war wieder wie am Abend zuvor allein in seinem Zimmer und machte sich eben Gedanken, was er jetzt anfangen sollte, als er auf der Treppe Schritte vernahm. Einige Augenblicke später stand ein Mann vor ihm, der ihn scharf ins Auge faßte und mit seinem Namen anredete.
    »Euer Diener«, versetzte Mr. Lorry. »Kennt Ihr mich?«
    Es war ein kräftig gebauter Mensch mit dunklem krausem Haar, der seine fünfundvierzig bis fünfzig zählen mochte. Statt aller Antwort wiederholte er nur ohne einen Wechsel in der Betonung die Worte:
    »Kennt Ihr mich?«
    »Ich muß Euch schon irgendwo gesehen haben.«
    »Vielleicht in meiner Weinschenke?«
    Voller Spannung und Erregung fragte Mr. Lorry:
    »Ihr kommt von Doktor Manette?«
    »Ja. Ich komme von Doktor Manette.«
    »Und was sagt er? Was läßt er mich durch Euch wissen?«
    Defarge legte in seine zitternde Hand einen offenen Zettel, auf dem in des Doktors Handschrift die Worte zu lesen waren:
    ›Charles ist wohlbehalten, obwohl es im gegenwärtigen Augenblick für mich nicht geraten ist, diesen Ort zu verlassen. Ich habe die Gunst ausgewirkt, daß der Überbringer dieses Briefes auch ein paar Zeilen von Charles an seine Frau besorgen darf. Laßt ihn zu ihr.‹
    Das Billett war der Bezeichnung nach eine Stunde vorher in La Force geschrieben worden.
    »Wollt Ihr mich in die Wohnung seiner Frau begleiten?« sagte Mr. Lorry mit froher Erleichterung, nachdem er die Zuschrift laut gelesen hatte.
    »Ja«, antwortete Defarge.
    Mr. Lorry hatte die seltsam zurückhaltende und mechanische Art, in der Defarge sprach, bis jetzt kaum beachtet. Er setzte seinen Hut auf, und sie gingen miteinander in den Hof hinunter. Dort fanden sie zwei Frauen, von denen die eine strickte.
    »Wahrhaftig Madame Defarge!« sagte Mr. Lorry, der sie vor siebzehn Jahren genau in derselben Haltung zum letzten Mal gesehen hatte.
    »Sie ist es«, bemerkte ihr Gatte.
    »Geht Madame mit uns?« fragte Mr. Lorry, als er sah, daß sie mit ihnen gleichen Schritt hielt.
    »Ja. Sie soll in der Lage sein, Personen und Gesichter wiederzuerkennen. Es geschieht um deren Sicherheit willen.«
    Nachgerade begann das Benehmen Defarges Mr. Lorry aufzufallen; er sah ihn zweifelhaft an und ging weiter. Die beiden Frauen folgten; die zweite war die Rache.
    Sie gingen mit möglichster Geschwindigkeit durch die dazwischen liegenden Straßen, stiegen die Treppe der neuen Wohnung hinan und wurden von Jerry eingelassen. Lucie war allein und weinte. Man denke sich ihr Entzücken, als Mr. Lorry ihr Nachricht von ihrem Manne brachte. Sie drückte krampfhaft die Hand, die ihr sein Billett überlieferte, ohne eine Ahnung von dem zu haben, was diese Hand während der letzten Nacht in der Nähe ihres Mannes getan hatte und, ohne einen Zufall, wohl an ihm selbst verübt hätte.
    ›Meine Teure – fasse Mut. Ich bin wohl, und dein Vater hat
Einfluß auf meine Umgebung. Du kannst mir nicht antworten auf diese Zeilen. Küsse unser Kind in meinem Namen.‹
    Das war die ganze Mitteilung. Der Empfängerin aber erschien sie von so hohem Wert, daß sie sich von Defarge an dessen Weib wandte und eine der strickenden Hände küßte. Es war eine leidenschaftliche, liebevolle, dankbare weibliche Regung; aber die Hand hatte keine Antwort darauf – sie sank kalt und schwer nieder und begann wieder zu stricken.
    In der Berührung lag etwas, was Lucie erschreckte. Wie sie eben

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