Eine Geschichte aus zwei Städten
mochte; doch trug ich Sorge dafür, daß sie ihr nicht weh taten. Den einzigen Funken von Hoffnung sah ich in dem Umstand, daß meine Hand, die ich auf der Brust der Kranken ruhen ließ, auf diese einen beschwichtigenden Einfluß übte und für Minuten wenigstens das wilde Umherwerfen bändigte. Das Schreien aber ging ungestört fort: Kein Pendel hätte regelmäßiger sein können.
Da, wie ich vermutete, meine Hand eine so günstige Wirkung übte, so blieb ich wohl eine halbe Stunde an dem Bett sitzen, während die beiden Brüder zusahen. Endlich sagte der ältere:
›Es ist noch ein Patient da.‹
Ich wurde betroffen und fragte, ob es ein dringender Fall sei.
›Es wird am besten sein, wenn Ihr selbst nachseht‹, antwortete er gleichgültig, indem er ein Licht nahm. * * *
Der andere Patient lag eine Treppe höher in einer Hinterstube, und ich wurde dahin durch eine Art Galerie über dem Stall geführt, die teilweise eine niedrige gegipste Decke hatte, während seitlich sich das Ziegeldach mit seinem Sparren- und
Balkenwerk anlegte. Es lag Heu und Stroh, auch Reisig hier aufgehäuft sowie ein Haufen Äpfel auf Sand. Ich mußte über diesen Teil der Galerie gehen, um zu dem anderen zu gelangen. Mein Gedächtnis ist nicht geschwächt und erinnert sich der kleinsten Umstände; ich ersehe dies daran, daß hier in der Bastille, in meiner Zelle, nach fast zehnjähriger Gefangenschaft alle jene Einzelheiten noch so deutlich vor mir stehen, wie ich sie an jenem Abend sah.
Auf einem am Boden ausgebreiteten Heuhaufen lag, ein Kissen unter dem Kopf, ein schöner Bauernbursche, der höchstens siebzehn Jahre zählen mochte. Er lag auf dem Rücken, seine Zähne waren verbissen, die Rechte hielt er fest an seine Brust gedrückt, und seine wild funkelnden Augen starrten nach der Decke hinauf. Als ich mich neben ihm aufs Knie niederließ, konnte ich nicht sehen, wo er verletzt war; so viel aber wurde mir klar, daß er an einer Stichwunde rasch dahinstarb.
›Ich bin ein Doktor, mein armer Bursche‹, sagte ich zu ihm; ›laß mich dich untersuchen.‹
›Brauche keine Untersuchung‹, antwortete er. ›Laßt's nur gehen.‹
Die Wunde befand sich unter seiner Hand, und ich brachte ihn so weit, daß er sie mich wegnehmen ließ. Die Verletzung rührte von einem Degenstoß her, den er vor etwa zwanzig oder vierundzwanzig Stunden empfangen haben mochte; aber keine Geschicklichkeit hätte ihn retten können, selbst wenn augenblicklich Hilfe aufgeboten worden wäre. Er lag im Sterben. Als ich meine Blicke dem älteren Bruder zuwandte, der mich heraufbegleitet hatte, bemerkte ich, daß er auf den schönen Jungen, der so bald aus dem Leben scheiden sollte, niederschaute, als sei er nur ein verwundeter Vogel, ein Hase oder ein Kaninchen, nicht aber ein Mitmensch.
›Wie ging das zu, Herr?‹ fragte ich.
›Ein verrückter, gemeiner junger Hund! Ein Leibeigener! Zwang meinen Bruder, gegen ihn zu ziehen, und fiel durch meines Bruders Degen – wie ein Kavalier.‹
Es lag keine Spur von Mitleid, Bedauern oder einem verwandten menschlichen Gefühl in dieser Antwort. Der Sprecher schien nur anzuerkennen, daß es unbequem sei, wenn diese ganz andere Art von Wesen hier verende, und es viel besser sein würde, wenn er in der gewöhnlichen dunklen Weise sein Wurmleben ende. Einer Teilnahme für den Knaben oder sein Schicksal war er ganz unfähig.
Während er sprach, hatten sich die Augen des jungen Menschen langsam auf ihn geheftet; dann aber wandten sie sich mir zu.
›Doktor, sie sind sehr stolz, diese Adligen; aber wir gemeinen Hunde sind bisweilen auch stolz. Sie plündern und beschimpfen uns, schlagen uns und bringen uns um; aber mitunter regt sich doch ein bißchen Ehrgefühl in uns. Sie … Ihr habt sie gesehen, Doktor?‹
Das Geschrei war auch hier hörbar, obschon durch die Entfernung gedämpft; er bezog sich darauf, als ob die Kranke mit im Zimmer liege.
Ich antwortete ihm, daß ich sie gesehen habe.
›Sie ist meine Schwester. Diese Adligen haben ein verjährtes schändliches Recht auf Sittsamkeit und Tugend unserer Schwestern; aber es gibt auch wackere Mädchen unter uns. Ich weiß es und habe meinen Vater davon sprechen hören. Sie war ein braves Mädchen. Sie heiratete einen braven jungen Mann – einen seiner Pächter. Wir sind lauter Leibeigene – dieses Mannes da, der hier steht. Der andere ist sein Bruder, der Schlimmste aus einer schlimmen Rasse.‹
Der junge Mensch brachte nur mit Mühe die Worte hervor,
da
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