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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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meine Vernunft nicht viel länger standhalten wird, erkläre aber feierlich, daß ich zur Zeit noch im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte bin, daß mein Gedächtnis mir treu ist bis ins einzelnste und daß ich die Wahrheit schreibe, wie ich sie vertreten werde vor dem ewigen Richterstuhl, ob nun die Geschichte meiner Leiden je vor Menschenaugen kommen möge oder nicht.
    An einem wolkigen, aber doch mondhellen Abend in der dritten Woche des Dezembers 1757 (ich glaube, es war der zweiundzwanzigste dieses Monats) erging ich mich an einem abgelegenen Punkte des Seinekais (er war fast eine Stunde von meiner Wohnung in der Straße der medizinischen Schule), um mich in der kalten Luft zu erfrischen. Da kam rasch eine Kutsche hinter mir her gefahren. Während ich in der Furcht, überfahren zu werden, beiseite trat und die Kutsche an mir vorbeilassen wollte, sah ein Kopf zu dem Fenster heraus und gebot dem Kutscher, haltzumachen.
    Der Mann hielt die Pferde an, und dieselbe Stimme rief nun mich bei Namen. Ich antwortete. Der Wagen war so weit
über mich hinausgefahren, daß zwei Herren Zeit hatten, den Schlag zu öffnen und auszusteigen, bis ich nachkam. Ich bemerkte, daß beide in Mäntel gehüllt waren und augenscheinlich sich vermummt halten wollten. Während sie Seite an Seite neben der Kutsche standen, bemerkte ich ferner, daß sie ungefähr von meinem Alter, vielleicht etwas jünger waren; auch schienen sie, soweit ich unterscheiden konnte, in Größe, Haltung, Stimme und Gesicht einander sehr ähnlich zu sein.
    ›Ihr seid der Doktor Manette?‹ sagte der eine.
    ›Ja.‹
    ›Doktor Manette, früher in Beauvais‹, ergriff der andere das Wort, ›der junge Arzt, ursprünglich ein geschickter Chirurg, der in den letzten Jahren sich in Paris einen schönen Ruf errungen hat?‹
    ›Meine Herren‹, entgegnete ich, ›ich bin der Doktor Manette, von dem ihr eine so vorteilhafte Meinung hegt.‹
    ›Wir sind in Eurer Wohnung gewesen‹, sagte der erste, ›wo wir nicht das Glück hatten, Euch zu treffen. Man sagte uns, Ihr würdet wahrscheinlich in dieser Gegend zu finden sein, und so fuhren wir Euch nach in der Hoffnung, Euch einzuholen. Wollt Ihr so gut sein, in den Wagen zu steigen?‹
    Das Benehmen der beiden war gebieterisch, und sie nahmen, während sie sprachen, eine Stellung ein, daß sie mich zwischen sich und den Kutschenschlag brachten; auch führten sie Waffen, während ich unbewehrt war.
    ›Meine Herren, entschuldigt‹, versetzte ich, ›aber ich pflege zuerst zu fragen, wer mir die Ehre erweist, meinen Beistand zu suchen, und aus welchem Grunde ich gerufen werde.‹
    Die Antwort erfolgte aus dem Munde des zweiten Sprechers.
    ›Doktor, Eure Klienten sind Personen von Stand. Was die Beschaffenheit des Falles betrifft, so gibt uns unser Vertrauen in Eure Geschicklichkeit die Überzeugung, daß Ihr sie selbst
besser werdet beurteilen können, als wir es zu beschreiben vermöchten. Genug. Wollt Ihr so gut sein, einzusteigen?‹
    Was konnte ich tun? Ich entsprach schweigend der Aufforderung. Die beiden kamen nach, der letzte mit einem Sprung, nachdem er den Tritt hinaufgeschlagen hatte; der Wagen wandte um und fuhr mit der früheren Eile davon.
    Ich wiederhole dieses Gespräch genau so, wie es stattgefunden hat, und zweifle nicht daran, daß ich es Wort für Wort gegeben habe. Was vorgefallen ist, zeichne ich mit der größten Genauigkeit auf, und ich gebe mir angelegentlich Mühe, meine Gedanken nicht von den Tatsachen abschweifen zu lassen. Wenn ich solche Zeichen mache, wie sie hier folgen, so bedeutet es, daß ich an dieser Stelle eine Pause gemacht und mein Papier in sein Versteck gelegt habe. * * *
    Der Wagen verließ die Stadt an der Nordbarriere und fuhr auf der Landstraße weiter. Dreiviertel Stunden von der Barriere – ich schätzte die Entfernung damals nicht, sondern erst später, als ich sie wieder zurücklegte – lenkten wir von dem Hauptwege ab und machten bald vor einem einsamen Haus halt. Wir stiegen alle drei aus und gingen auf einem feuchten weichen Fußpfade durch den Garten, in dem ein vernachlässigtes Springbrunnenbecken übergelaufen war, nach der Haustür. Sie wurde auf das Klingeln nicht sogleich geöffnet, und einer von meinen beiden Führern schlug dem Mann, der endlich aufmachte, mit der Reitpeitsche über das Gesicht.
    Es lag nichts in dieser Handlung, was mir besonders auffallen konnte, denn es war an der Tagesordnung, daß man gewöhnliche Leute ärger als Hunde

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