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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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es ihm an körperlicher Kraft gebrach; aber sein Geist sprach mit einem furchtbaren Nachdruck.
    ›Wir sind diesen höheren Wesen gegenüber nur gemeine Hunde, und der Mann, der hier steht, beraubte uns nach Belieben, besteuerte uns ohne Erbarmen und zwang uns, für ihn zu arbeiten ohne Lohn; wir mußten unser Korn auf seiner Mühle mahlen, sein zahmes Geflügel in Scharen auf unseren ärmlichen Feldern ernähren und durften unter Todesbedrohung kein einziges Huhn selber halten. Dem Raub und der Plünderung in aller Weise ausgesetzt, aßen wir den Bissen Fleisch, den wir zufällig erhielten, hinter verschlossenen Türen und Läden, aus Furcht, seine Leute könnten ihn sehen und uns wegnehmen. Ja, so sehr sind wir armen Leute Bedrängnissen aller Art ausgesetzt, daß unser Vater uns sagte, es sei etwas Schreckliches, wenn uns ein Kind geboren werde, und wir sollten hauptsächlich darum beten, daß unsere Weiber unfruchtbar blieben und unsere armselige Rasse aussterbe.‹
    Ich hatte nie zuvor das Gefühl der Bedrückung in so heller Lohe aufflackern sehen. Wohl dachte ich mir, es müsse irgendwo im Verborgenen schwelen; aber zur Anschauung kam es mir nie, bis ich jenen sterbenden Burschen sah.
    ›Gleichwohl heiratete meine Schwester, Doktor. Ihr Liebhaber war um jene Zeit krank, und sie heiratete den armen Jungen, um ihn gemächlich in unserer Hütte – unserem Hundestall, wie sie dieser Mann nennt – pflegen zu können. Sie war noch nicht viele Wochen verheiratet, als der Bruder dieses Mannes sie sah, Gefallen an ihr fand und von ihrem Mann verlangte, daß er sie ihm borge – denn was gelten Ehemänner unter uns? Er ließ sich bereit finden; aber meine Schwester war brav und tugendhaft und haßte seinen Bruder mit ebenso bitterem Haß wie ich. Was taten nun die zwei, um ihren Mann zu überreden, daß er seinen Einfluß auf sie ausübe und sie willig mache?‹
    Die Augen des jungen Menschen, die bisher auf mir gehaftet hatten, wandten sich nun langsam dem Zuschauer zu, und ich las in den beiden Gesichtern, daß die Wahrheit gesprochen worden war. Ich kann mir selbst in der Bastille noch die verschiedenen Arten von Stolz vergegenwärtigen, die sich hier begegneten – der Herr voll nachlässiger Gleichgültigkeit, der Bauer mit seinen in den Staub getretenen Gefühlen voll leidenschaftlicher Rachsucht.
    ›Ihr wißt, Doktor, daß es zu den Rechten dieser Adligen gehört, uns gemeine Hunde an den Karren zu spannen und auf uns loszupeitschen. Sie spannten ihn ein und ließen ihn die Peitsche fühlen. Ihr wißt, daß sie das Recht haben, uns die ganze Nacht durch auf ihren Feldern zu halten, wo wir die Frösche zum Schweigen bringen müssen, damit ihr edler Schlaf nicht gestört werde. Sie schickten ihn nachts hinaus in den ungesunden Nebel und ließen ihn bei Tag den Karren ziehen. Er wollte sich aber nicht bereden lassen. Nein! Eines Mittags aus dem Geschirr genommen, um sich selbst zu füttern, wenn er anders Nahrung finden konnte, schluchzte er zwölfmal – einmal bei jedem Schlag der Glocke – und starb an ihrer Brust.‹
    (Kein menschliches Mittel hätte den armen Jungen so lange am Leben erhalten können; aber der Wunsch, all das erlittene Unrecht kundzutun, hielt ihn aufrecht. Er drängte die nahenden Schatten des Todes zurück, wie er seine Faust zwang, zusammengeballt zu bleiben und seine Wunde zu bedecken.)
    ›Dann nahm mit Erlaubnis und unter Beihilfe dieses Mannes sein Bruder sie weg; trotz dem, was sie, wie ich weiß, seinem Bruder gesagt haben muß und was Euch nicht lange unbekannt bleiben wird, wenn Ihr nicht etwa jetzt schon davon Kunde habt–, nahm sein Bruder sie weg auf eine kurze Weile zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung. Ich sah sie auf der Stra
ße an mir vorbeikommen. Als ich mit der Nachricht zu Hause anlangte, brach unserem Vater das Herz; er vermochte nicht mehr zu sprechen, wie schwer ihm die Worte auch auf der Seele lagen. Ich schaffte meine jüngere Schwester (denn ich hatte noch eine) an einen Platz, wo ihr dieser Mann nicht mehr beikommen kann; sie wenigstens wird niemals seine Leibeigene sein. Dann folgte ich seinem Bruder hierher und kletterte gestern nacht herein – wohl ein gemeiner Hund, aber mit einem Säbel in der Hand. – Wo ist das Fenster zur Galerie? Es war hier irgendwo.‹
    Das Gemach verdunkelte sich vor seinen Blicken; die Welt schloß sich immer enger vor ihm ab. Ich schaute umher und bemerkte, daß das Heu und Stroh in einer Weise niedergetreten war, als habe

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