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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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behandelte. Der andere von den beiden, der auch zornig war, schlug den Mann in gleicher Weise mit der Hand; der Blick und die Haltung der Brüder zeigte bei jener Gelegenheit eine so große Ähnlichkeit, daß ich jetzt zum ersten Mal bemerkte, sie seien Zwillingsbrüder.
    Von der Zeit unseres Aussteigens am äußeren Tor an, das wir verschlossen gefunden und das von einem der Brüder geöffnet und wieder geschlossen wurde, hatte ich von einem oberen Gemach her schreien hören. Man führte mich geradeswegs nach diesem Zimmer; das Geschrei wurde beim Hinaufsteigen immer lauter, und ich fand einen Patienten, der an einer heftigen Gehirnentzündung darniederlag.
    Der Patient war ein junges Frauenzimmer von großer Schönheit, augenscheinlich nicht viel über zwanzig. Sie hatte wildzerrauftes Haar, und die Arme waren ihr mit Schärpen und Tüchern an den Leib gebunden. Ich bemerkte, daß diese Binden lauter Stücke von einem Herrenanzug waren. An einem von ihnen, einer Galaschärpe mit Fransen, sah ich das Wappen eines Adligen und den Buchstaben E.
    Dies war mir schon in der ersten Minute meiner Untersuchung aufgefallen; denn bei ihrem unruhigen Umherwerfen hatte die Patientin das Gesicht über den Rand des Bettes hinausgebracht und das Schärpenende in den Mund bekommen, so daß sie zu ersticken drohte. Ich sorgte zuerst dafür, daß sie wieder frei atmen konnte, und als ich die Schärpe beiseite zog, fiel mir sogleich die Stickerei in der Ecke auf.
    Ich rückte sie sanft ins Bett zurück, legte, um sie zu beruhigen und niederzuhalten, meine Hände auf ihre Brust und sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen traten wild aus ihren Höhlen hervor, und sie schrie ohne Unterlaß in durchbohrenden Lauten, wobei sie häufig die Worte wiederholte: ›Mein Mann, mein Vater und mein Bruder!‹ Dann zählte sie bis zwölf und sagte: ›Pst!‹ Sie lauschte einen Augenblick, und dann kam das zeternde Geschrei wieder, der Ruf: ›Mein Mann, mein Vater und mein Bruder‹, das Zählen und das ›Pst!‹ So ging es fort – kein Nachlassen als die regelmäßige augenblickliche Pause, ehe das Geschrei wieder von neuem anfing.
    ›Wie lange dauert dies schon?‹ fragte ich.
    Um die Brüder zu unterscheiden, will ich den einen den Älteren und den anderen den Jüngeren nennen; unter dem Älteren meine ich den, der die meiste Autorität übte. Dieser war's, der antwortete:
    ›Seit gestern abend um diese Zeit.‹
    ›Sie hat einen Mann, einen Vater und einen Bruder?‹
    ›Einen Bruder.‹
    ›Spreche ich vielleicht mit ihm?‹
    Die Antwort war ein verächtliches ›Nein‹.
    ›Was hat sie in letzter Zeit mit der Zahl Zwölf zu schaffen gehabt?‹
    ›Mit der Zahl Zwölf?‹ erwiderte ungeduldig der jüngere Bruder.
    ›Ihr seht, meine Herren‹, sagte ich, ohne meine Hände von der Brust der Kranken zu entfernen, ›wie nutzlos ich bin, so wie ihr mich hierhergebracht habt. Hätte ich gewußt, worum es sich handelt, so hätte ich mich vorsehen können; jetzt aber geht viel Zeit verloren. An diesem einsamen Platz sind keine Arzneien zu haben.‹
    Der ältere Bruder sah den jüngeren an, der stolz erklärte, es sei eine Hausapotheke hier. Er holte sie aus einem Kabinett herbei und stellte das Kistchen auf den Tisch. * * *
    Ich öffnete einige von den Flaschen, roch daran und brachte die Stöpsel an meine Lippen. Ich würde nichts davon verwendet haben, wenn ich nicht einige narkotische Mittel gebraucht hätte, die ohnehin giftig sind.
    ›Traut Ihr ihnen nicht?‹ fragte der jüngere Bruder.
    ›Ihr seht, mein Herr, daß ich eben dabei bin, sie anzuwenden‹, entgegnete ich, ohne etwas Weiteres hinzuzufügen.
    Mit Mühe gelang es mir endlich, die Kranke zu bewegen, daß sie die Dosis schluckte, die ich ihr zu geben wünschte. Da
ich sie nach einer Weile zu wiederholen beabsichtigte und es nötig war, ihre Wirkung zu beobachten, so setzte ich mich neben dem Bett nieder. Im Zimmer befand sich eine stille schüchterne Frauensperson, das Weib des unten wohnenden Mannes, die sich in eine Ecke zurückgezogen hatte. Das Haus war feucht und baufällig, ganz gewöhnlich möbliert und augenscheinlich erst seit kurzem bewohnt. Man hatte einige dicke alte Behänge vor die Fenster genagelt, um das Geschrei zu dämpfen. Dieses währte in regelmäßigem Wechsel mit dem Rufe: ›Mein Mann, mein Vater und mein Bruder‹, dem Zwölfezählen und dem darauffolgenden ›Pst!‹ fort. Das Phantasieren war so ungestüm, daß ich die Bande um die Arme nicht entfernen

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