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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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ruhig. Wenn Ihr es an Ehrerbietung gegenüber dem Gericht fehlen ließet, würdet Ihr selbst dem Gesetz verfallen. Und wenn Ihr etwas höher achtet als Euer Leben, so kann einem guten Bürger nichts so teuer sein wie die Republik.«
    Lauter Zuruf zollte diesem Verweis Beifall. Der Präsident rührte die Klingel und fuhr mit Wärme fort: »Wenn die Republik von Euch Euer Kind selbst verlangen sollte, so wäre es Eure heiligste Pflicht, es zum Opfer zu bringen. Hört, was kommen wird, und verhaltet Euch inzwischen still.«
    Abermals tobender Beifallsruf. Doktor Manette setzte sich;
seine Lippen bebten, und seine Augen schauten umher, während er seine Tochter inniger an sich zog.
    Sobald es im Gerichtssaal ruhig genug geworden war, um jemand verhören zu können, wurde Defarge vorgeladen. Er erzählte in Kürze die Geschichte der Gefangennahme des Doktors, bei dem er als ganz junger Mensch in Dienst gestanden, wie dieser endlich befreit und in welchem Zustand er ihm überliefert worden. Darauf folgte ein kurzes Verhör, denn der Gerichtshof machte rasche Arbeit.
    »Ihr habt bei der Erstürmung der Bastille gute Dienste geleistet, Bürger?«
    »Ich glaube.«
    Aus dem Gedränge ließ sich jetzt ein aufgeregtes Weib mit kreischender Stimme vernehmen:
    »Ihr seid an jenem Tage einer der besten Patrioten gewesen. Warum sagt Ihr das nicht? Ihr habt an der Kanone gestanden und wart unter den ersten Stürmenden, als die fluchwürdige Feste fiel. Patrioten, ich spreche die Wahrheit.«
    Es war die Rache, die unter ermunternden Lobesworten der Zuhörer in solcher Weise die Verhandlung zu fördern suchte. Der Präsident rührte die Klingel; aber die Rache war durch den gespendeten Beifall warm geworden und rief aufs neue: »Ich frage nichts nach Eurer Klingel!« – eine Erklärung, die ihr einen neuen Beifallssturm eintrug.
    »Erzählt dem Gerichtshof, was Ihr an jenem Tage in der Bastille getan habt, Bürger.«
    »Ich wußte«, sagte Defarge, auf sein Weib niederschauend, das am Fuße der Estrade stand, auf der er seine Angaben machte, und kein Auge von ihm verwandte, »ich wußte, daß der Gefangene, von dem ich spreche, in der Zelle hundertundfünf, Nordturm, eingesperrt gewesen. Ich hatte dies aus seinem eigenen Munde. Ja, er kannte sich nur unter dem Namen Hun
dertundfünf, Nordturm, als er unter meiner Obhut Schuhe machte. Während ich an jenem Tage mein Geschütz bediente, faßte ich den Entschluß, wenn die Feste fiele, jene Zelle zu untersuchen. Sie wurde erstürmt. Ich steige, von seinem Gefängniswärter geführt, mit einem Mitbürger, der dort unter den Geschworenen sitzt, nach der Zelle hinauf und stelle sorgfältige Nachforschungen an. In einem Kaminloch, in das ein ausgebrochener Stein wieder eingesetzt ist, finde ich ein beschriebenes Papier. Hier ist es. Ich habe mir's angelegen sein lassen, mir einige Proben von Doktor Manettes Handschrift zu verschaffen. Dies ist von Doktor Manette geschrieben. Ich übergebe hiermit die eigenhändige Schrift des Doktors Manette dem Präsidenten.«
    »Man lese vor.«
    Totenstille trat ein. Der Angeklagte warf einen liebevollen Blick auf Lucie, die den ihrigen nur von ihm abwandte, um ängstlich auf ihren Vater zu schauen. Der Doktor verwandte kein Auge von dem Vorleser; Madame Defarge hielt ihren Blick auf den Gefangenen geheftet, und Defarges Auge haftete wie festgebannt auf seinem sich an dem Schauspiel weidenden Weibe. Die Blicke aller anderen waren dem Doktor zugekehrt, der indes keinen Sinn für seine Umgebung hatte. Die Schrift lautete wie folgt:
    Zehntes Kapitel
    Ein Schatten steht auf
    »Ich, Alexander Manette, ein unglücklicher Arzt, gebürtig aus Beauvais und später seßhaft in Paris, schreibe diesen trübseligen Bogen in einer schauerlichen Zelle der Bastille während
des letzten Monats im Jahre 1767. Ich schreibe daran in verstohlenen Zwischenräumen und unter allen möglichen Erschwernissen.
    Die Schrift soll in der Kaminwand verborgen werden, in der ich langsam und mühevoll ein Versteck dafür gemacht habe; vielleicht findet sie eine mitleidige Hand, wenn ich mit meinem Schmerz in Staub zerfallen bin.
    Die Worte sind im letzten Monat des zehnten Jahres meiner Gefangenschaft mit einem rostigen Nagel geschrieben und nur mit Mühe hingekritzelt; als Tinte dienten mir Ruß und Kohle aus dem Kamin, die ich mit meinem Blute mischte. Die Hoffnung ist aus meiner Brust entschwunden. Ich weiß aus den schrecklichen Anzeichen, die ich schon an mir wahrgenommen habe, daß

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