Eine Geschichte aus zwei Städten
aber ich wünschte mein Gewissen zu erleichtern. Im übrigen bewahrte ich die Vorgänge als tiefes Geheimnis, selbst vor meiner Frau, und ich beschloß, dies in meinem Schreiben an den Minister anzuführen. Für mich selbst fürchtete ich keine wirkliche Gefahr, wohl aber für andere, wenn diese wußten, was ich wußte, und sich verrieten.
Ich war an jenem Tage sehr beschäftigt und konnte mein Schreiben am selben Abend nicht zu Ende bringen, weshalb ich am anderen Morgen viel früher als gewöhnlich aufstand. Es war der letzte Tag des Jahres. Ich hatte eben die Feder niedergelegt, als mir angezeigt wurde, daß eine Dame warte und mich zu sprechen wünsche. * * *
Ich werde mehr und mehr unfähig für die Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Es ist so kalt, so dunkel, die Sinne versagen mir, und ein schreckliches Düster umfängt mich.
Die Dame war jung, schön und angenehm, aber augenscheinlich nicht für ein langes Leben bestimmt. Sie befand sich in einer großen Erregung. Sie stellte sich mir als Gattin des Mar
quis St. Evrémonde vor. Ich brachte diesen Namen mit dem Titel, mit dem der Knabe den älteren Bruder angeredet, und mit dem gestickten Anfangsbuchstaben auf der Schärpe in Verbindung und zog daraus leicht den Schluß, daß ich in letzter Zeit mit diesem Edelmann zu tun gehabt hatte.
Mein Gedächtnis ist noch gut, aber ich kann die Worte unseres Gesprächs nicht niederschreiben. Ich vermute, daß ich schärfer bewacht werde als früher, und ich bin keinen Augenblick vor einem Überfall sicher. Sie hatte die Hauptzüge der traurigen Geschichte, bei der ihr Mann beteiligt und mein Beistand aufgeboten worden war, zum Teil geargwöhnt, zum Teil entdeckt, wußte aber nicht, daß das arme Opfer tot war. Sie habe gewünscht, sagte sie in großer Betrübnis, der Unglücklichen im geheimen weibliche Sympathie zuteil werden zu lassen und so den Zorn des Himmels von einem Hause abzuwenden, auf dem der Fluch so vieler Leidender lastete.
Sie habe Grund, zu glauben, daß noch eine jüngere Schwester am Leben sei, und es sei ihr sehnlichster Wunsch, ihr zu helfen. Ich konnte ihr keine andere Auskunft geben, als daß es mit dem Vorhandensein einer Schwester seine Richtigkeit habe; weiter wisse ich aber nichts von ihr. Die Dame war voll Vertrauen zu mir gekommen, in der Meinung, ich könne ihr den Namen und Aufenthalt der Verschwundenen angeben; aber bis auf diese Unglücksstunde habe ich weder von dem einen noch von dem anderen etwas erfahren. * * *
Es fehlen mir einige Blätter. Das eine wurde mir gestern mit einer Verwarnung abgenommen. Ich muß meinen Bericht heute zu Ende bringen.
Sie war eine gute, mitleidige Frau und in ihrer Ehe nicht glücklich. Wie wäre das auch möglich gewesen? Der Schwager traute ihr nicht, haßte sie und trat ihr mit seinem Einfluß überall entgegen; sie aber fürchtete ihn und ihren Mann. Als
ich sie zu ihrem Wagen hinunterbegleitete, sah ich darin ein Kind, einen hübschen Knaben von zwei oder drei Jahren.
›Um seinetwillen, Doktor‹, sagte sie, unter Tränen auf den Knaben deutend, ›möchte ich gern alles tun, was in meinen schwachen Kräften liegt, um für das Geschehene Sühne zu leisten. Sein Erbe wird ihm sonst nie Glück bringen. Ich habe eine Ahnung, daß, wenn nicht eine andere Genugtuung für diese Tat geleistet wird, eines Tages er dafür einzustehen hat. Was ich ihm einmal als mein Eigentum hinterlassen kann – es ist außer einigen Juwelen von geringem Wert –, soll er, ich lege es ihm als erste Lebensaufgabe ans Herz, um seiner armen Mutter willen dieser schwer gekränkten Familie zuwenden, wenn sich die Schwester auffinden läßt.‹
Sie küßte den Knaben und sagte liebkosend zu ihm: ›Du tust's auch zu deinem eigenen Besten. Nicht wahr, du willst mir Wort halten, kleiner Charles?‹ Das Kind antwortete mit einem herzhaften Ja. Ich küßte ihr die Hand. Sie nahm den Knaben in die Arme, und während sie ihn liebkoste, fuhr der Wagen davon. Ich habe sie nie wiedergesehen.
Sie hatte mir den Namen ihres Gatten genannt, in der Meinung, daß ich ihn bereits kenne. Ich wollte ihn gleichwohl in meinem Schreiben nicht nennen, sondern siegelte es, wie es war, und gab es, da ich es keinen anderen Händen anvertrauen mochte, im Laufe des Tages persönlich ab.
Denselben Abend (es war der letzte im Jahr) gegen neun Uhr läutete ein schwarz gekleideter Mann an meiner Tür, verlangte mich zu sprechen und folgte leise meinem Diener Ernst Defarge, einem jungen
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