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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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aufgehört, als Lucie, in ihrem Antlitz keinen anderen Ausdruck als den der Liebe und der Tröstung, die Arme nach ihrem Gatten ausstreckte.
    »Darf ich ihn anrühren? Darf ich ihn nur ein einziges Mal umarmen? Oh, ihr guten Bürger, wenn ihr nur soviel Mitleid mit uns hättet!«
    Es waren nur zwei von den vier Männern, die ihn am Abend vorher verhaftet hatten, ein Schließer und Barsad, zurückgeblieben. Alles Volk zog dem Schauspiel auf der Straße nach. Barsad machte dem anderen den Vorschlag, die Umarmung zu dulden, da sie ja nur einen Augenblick dauern werde. Die Männer gaben stumm ihre Zustimmung und halfen ihr über die Sitze in dem Saal nach einem erhöhten Platz, wo er aus seinem Verschlag sich herausbeugen und sie mit seinen Armen umschlingen konnte.
    »Lebe wohl, teures Kleinod meiner Seele! Nimm meine letzten Segenswünsche hin. Wir werden uns wiedersehen, wo die Müden Ruhe finden!«
    Dies waren die Worte ihres Gatten, als er sie an seine Brust drückte.
    »Ich kann es ertragen, teurer Charles. Ich fühle mich gestärkt von oben; laß dir daher um meinetwillen das Herz nicht schwer werden. Einen Abschiedssegen für unser Kind.«
    »Ich sende ihn durch dich. Ich küsse es für dich. Ich sage ihm Lebewohl durch dich!«
    »Mein Gatte, nein! Einen Augenblick!« Er wollte sich von ihr losreißen. »Wir werden nicht lange getrennt sein. Ich fühle, daß mein Herz bald brechen muß; aber ich will meine Pflicht erfüllen, solange ich kann, und wenn ich sie zurücklasse, wird Gott auch unserer Tochter Freunde erwecken, wie er sie mir erweckt hat.«
    Ihr Vater, der ihr gefolgt war, wollte vor ihnen auf die Knie niederfallen; aber Darnay streckte die Hand aus und hinderte ihn daran, indem er ihm zurief:
    »Nein, nein! Was habt Ihr getan, daß Ihr vor uns knien solltet? Wir wissen jetzt, welche Kämpfe Ihr durchmachen mußtet – wissen, was Ihr littet, als Ihr meine Herkunft vermutetet und endlich Gewißheit darüber erhieltet. Wir wissen, gegen welchen natürlichen Widerwillen Ihr ankämpfen mußtet und wie Ihr ihn überwunden habt um ihretwillen. Wir danken Euch aus tiefstem Herzen und mit dem ganzen Pflichtgefühl der Liebe. Der Himmel sei mit Euch!«
    Die Antwort ihres Vaters bestand nur darin, daß er mit den Händen in seine weißen Haare fuhr und unter schmerzlichem Stöhnen sie zerraufte.
    »Es konnte nicht anders kommen«, sagte der Gefangene. »Alles hat zusammengewirkt zu einem solchen Ende. Das stets vergebliche Bemühen, dem Auftrag meiner armen Mutter gerecht zu werden, hatte mich zuerst verhängnisvoll in Eure Nähe geführt. Aus so viel Bösem konnte nie etwas Gutes kommen,
und ein glücklicherer Ausgang durfte von einem so unglücklichen Anfang nicht erwartet werden. Seid getrost und vergebt mir! Der Segen des Himmels sei mit Euch!«
    Als man ihn wegschaffen wollte, ließ sein Weib ihn los; sie legte in betender Haltung ihre Hände zusammen und sah ihm nach mit einem strahlenden Ausdruck auf ihrem Gesicht, in den sich sogar ein tröstendes Lächeln mischte. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen, wandte sie sich um und legte ihren Kopf liebevoll an die Brust des Vaters, brach aber, als sie ihn anzureden versuchte, zu seinen Füßen zusammen.
    Jetzt kam Sydney Carton aus dem dunklen Winkel, in dem er sich nicht gerührt hatte, hervor und nahm sie auf. Nur ihr Vater und Mr. Lorry waren bei ihr. Sein Arm zitterte, als er sie aufrichtete und ihren Kopf stützte. Und doch lag in seiner Miene ein Zug, der nicht ganz Mitleid war, sondern auch einen Anflug von Stolz verriet.
    »Soll ich sie zu einer Kutsche bringen? Ich werde ihre Last nicht fühlen.«
    Er brachte sie mit Leichtigkeit hinaus und in eine Kutsche. Ihr Vater und ihr alter Freund stiegen nach, und er nahm seinen Sitz neben dem Kutscher.
    Als sie an der Tür anlangten, vor der er einige Stunden früher eine Weile im Dunkeln sich aufgehalten, um sich auszumalen, auf welche von den rauhen Steinen ihr Fuß getreten habe, hob er sie wieder heraus und trug sie die Treppe hinauf in ihre Wohnung. Da legte er sie auf ein Ruhebett nieder, wo ihr Kind und Miß Proß weinend über sie hinstürzten.
    »Sucht sie nicht zu wecken«, sagte er sanft zu ihnen; »es ist besser so. Man muß sie nicht zum Bewußtsein zurückrufen, da sie nur ohnmächtig ist.«
    »O Carton, Carton, lieber Carton!« rief die kleine Lucie, indem sie aufsprang und in ihrem Schmerz leidenschaftlich die
Arme um ihn schlang. »Nun Ihr da seid, werdet Ihr wohl etwas tun, um Mama

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