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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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zu helfen und Papa zu retten. O seht sie an, lieber Carton! Könnt Ihr unter allen Menschen, die sie lieben, es ertragen, sie so zu sehen?«
    Er beugte sich zu dem Kinde nieder und drückte die blühenden Wangen an sein Gesicht; dann schob er die Kleine sanft zurück und sah ihre bewußtlose Mutter an.
    »Ehe ich gehe«, sagte er und hielt dann eine Weile inne, »darf ich sie wohl küssen?«
    Man erinnerte sich später, daß er, als er sich niederbeugte und mit seinen Lippen ihr Gesicht berührte, einige Worte murmelte. Die Kleine, die ihm am nächsten stand, erzählte nachher und erzählte es namentlich, als sie schon eine hübsche alte Frau war, ihren Enkeln, sie habe ihn sagen hören: »Ein Leben, das Ihr liebt.« Er hatte sich bereits ins Vorzimmer begeben, als er sich noch einmal nach Mr. Lorry und ihrem Vater, die ihm gefolgt waren, umwandte und zu dem Doktor sagte:
    »Ihr habt erst gestern noch großen Einfluß gehabt, Doktor Manette; macht wenigstens noch einen Versuch. Jene Richter und alle, die Gewalt haben, sind Euch freundlich gesinnt und erkennen Eure geleisteten Dienste an; ist's nicht so?«
    »Es ist mir nichts verhehlt worden, was Charles betraf. Man gab mir die besten Versicherungen, daß ich ihn retten werde; und es gelang mir.«
    Er brachte diese Antwort nur langsam und mit großer Mühe hervor.
    »Versucht es noch einmal. Wir haben zwar von jetzt an nur noch wenige kurze Stunden bis morgen nachmittag; aber versucht es.«
    »Ja, ich will es versuchen! Ich will keinen Augenblick ruhen!«
    »Recht so! Einem Eifer wie dem Eurigen sind sonst schon große Dinge gelungen, wenn auch nie«, fügte er mit einem Lä
cheln und einem gleichzeitigen Seufzer bei, »etwas so Großes wie dieses. Aber macht den Versuch! Wie wenig auch das Leben wert ist, wenn wir es mißbrauchen, so gewinnt es doch Bedeutung durch eine solche Anstrengung. Wenn das nicht wäre, so möchte man lieber gar nicht leben.«
    »Ich will geradeswegs zu dem öffentlichen Ankläger und zu dem Vorsitzenden gehen«, sagte Doktor Manette, »und noch zu anderen, die ich lieber nicht nenne. Auch schreiben will ich – aber halt! Sie veranstalten einen Festzug durch die Straßen, und vor Einbruch der Dunkelheit werde ich keinen sprechen können.«
    »Das ist wahr. Nun, im besten Fall sind unsere Hoffnungen nicht groß, und die Sache kann nicht verschlimmert werden, wenn man auch bis zur Dämmerung warten muß. Ich möchte wohl erfahren, was Ihr ausrichtet, obschon ich gestehe, daß ich nichts erwarte. Wann werdet Ihr bei jenen gefürchteten Gewalthabern vorsprechen können, Doktor Manette?«
    »Ich hoffe, sobald es dunkel ist. In einer oder in zwei Stunden vielleicht.«
    »Es wird bald nach vier Uhr dunkel. Wollen wir diesen zwei Stunden noch etwas zugeben. Wenn ich um neun Uhr bei Mr. Lorry vorspreche, so werde ich entweder von unserem Freund oder von Euch erfahren können, was Ihr ausgerichtet habt!«
    »Ja.«
    »Möge es günstig ausfallen.«
    Mr. Lorry begleitete Sydney zur äußeren Tür und bewog ihn, ehe er sich entfernte, durch eine Berührung der Schulter, sich noch einmal umzuwenden.
    »Ich habe keine Hoffnung«, sagte Mr. Lorry in leisem, kummervollem Flüstern.
    »Ich auch nicht.«
    »Wenn einzelne von diesen Männern oder meinetwegen
alle – das ist gewiß eine kühne Voraussetzung, denn was kümmern sie sich um sein oder irgendeines Menschen Leben? – zur Schonung geneigt sein sollten, so zweifle ich, ob sie nach der Kundgebung in dem Gerichtshof es wagen dürften, Gnade walten zu lassen.«
    »Ich bin ganz Eurer Ansicht. In jenem Getümmel hörte ich das Fallen des Beiles.«
    Mr. Lorry stützte seinen Arm auf das Türschloß und senkte sein Gesicht darauf nieder.
    »Ihr müßt nicht verzagen«, sagte Carton in sanftem Tone, »Euch nicht so ganz dem Schmerz hingeben. Ich habe den Doktor Manette zum Handeln ermutigt, weil ich fühlte, daß sie eines Tages einen Trost darin finden dürfte. Sie könnte sonst glauben, sein Leben sei mutwillig geopfert oder vergeudet worden, und das könnte ihr Kummer bereiten.«
    »Ja, ja, ja«, entgegnete Mr. Lorry, seine Augen trocknend, »Ihr habt recht, aber er ist gleichwohl verloren; es ist nichts mehr zu hoffen.«
    »Ja, er ist verloren; es ist nichts mehr zu hoffen«, wiederholte Carton. Und er ging festen Schrittes die Treppe hinunter.
    Zwölftes Kapitel
    Dunkelheit
    Sydney Carton blieb auf der Straße stehen, weil er noch nicht ganz schlüssig war, wohin er gehen sollte. »Um neun Uhr in

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