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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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ist, an die Schönheit, die sie nie besaßen, an Vollkommenheit, die nie ein gutes Glück ihnen bescherte, und an glänzende Hoffnungen, die nie den düsteren Pfad ihres eigenen Lebens erhellten. Er kannte die Welt hinreichend, zu wissen, daß nichts über den treuen Dienst des Herzens geht, und da ihm dieser hier so rein und fleckenlos entgegentrat, so zollte er ihm auch eine so hohe Verehrung, daß er in der Vergeltungsstufenleiter, die er in seinem Innern sich ausdachte – wir alle entwerfen uns solche Skalen –, Miß Proß den niedereren Engeln viel näher stellte als viele durch Natur und Kunst unendlich mehr begünstigte Damen, die ein Konto bei Tellsons hatten.
    »Es hat nur einen einzigen Mann gegeben, und außer ihm gibt's keinen mehr, der meines Täubchens würdig gewesen wä
re«, sagte Miß Proß; »ich meine damit meinen Bruder Salomon und beklage nur, daß er Unglück im Leben gehabt hat.«
    Auch in diesem Punkte hatte Mr. Lorry durch Erkundigungen über Miß Proß' persönliche Geschichte die Tatsache ermittelt, daß ihr Bruder Salomon ein herzloser Wicht war, der sie durch törichte Spekulationen um ihr ganzes Vermögen gebracht und ohne Gewissensbisse für immer der Armut preisgegeben hatte. Der treue Glaube der Miß Proß an Salomon aber, der durch sein sogenanntes Unglück nur wenig beeinträchtigt wurde, erschien in Mr. Lorrys Augen gewichtig genug und trug nicht wenig dazu bei, seine gute Meinung von ihr zu erhöhen. »Da wir im Augenblick allein und beide Geschäftsleute sind«, sagte er, als sie nach dem ersten Zimmer zurückgekehrt waren und sich freundschaftlich einander gegenübergesetzt hatten, »so erlaubt Ihr mir wohl eine Frage: Kommt der Doktor, wenn er mit Lucie spricht, nie auf die Zeit seiner Schuhmacherei zu sprechen?«
    »Nie!«
    »Und doch behält er jene Bank und das Handwerkszeug bei sich?«
    »Ja«, entgegnete Miß Proß, den Kopf schüttelnd; »aber aus seinem Schweigen folgt noch nicht, daß er sich nicht in Gedanken damit zu schaffen macht.«
    »Glaubt Ihr, daß er oft daran zurückdenkt?«
    »Ja«, sagte Miß Proß.
    »Und bildet Ihr Euch ein …« begann Mr. Lorry aufs neue, wurde aber hastig von Miß Proß unterbrochen.
    »Ich bilde mir nie etwas ein – habe keine Einbildungskraft.«
    »Ich lasse mich gern belehren. Vermutet Ihr … so weit kommt's doch hin und wieder bei Euch, daß Ihr vermutet?«
    »Bisweilen«, sagte Miß Proß.
    »Vermutet Ihr also«, fuhr Mr. Lorry mit einem heiteren Zwin
kern seines hellen Auges fort, während er sie zugleich freundlich ansah, »daß Doktor Manette sich aus dieser langen Zeit die Erinnerung an die Ursache seines Unglücks bewahrt oder wohl gar den Namen seines Feindes behalten hat?«
    »Ich vermute hierüber nichts, als was mir mein Täubchen sagt.«
    »Das wäre?«
    »Sie glaubt, daß es wirklich der Fall ist.«
    »Seid nicht ungehalten, daß ich alle diese Fragen an Euch richte, denn ich bin nur ein einfältiger Geschäftsmann, und Ihr seid eine Geschäftsfrau.«
    »Auch einfältig?« fragt Miß Proß heiter.
    Mr. Lorry, der gern das bescheidene Beiwort weggewünscht hätte, entgegnete:
    »Nein, nein; gewiß nicht. Um auf die Sache zurückzukommen: ist es nicht merkwürdig, daß Doktor Manette, von dem wir alle vollkommen überzeugt sind, daß er kein Verbrechen begangen haben kann, nie auf diesen Punkt eingeht? Ich will nicht sagen, mir gegenüber, obschon er viele Jahre vorher zu mir in Geschäftsbeziehung stand und wir jetzt sehr vertraut miteinander sind, sondern gegenüber seiner schönen Tochter, die er so innig liebt und die auch ihm so innig zugetan ist. Glaubt mir, Miß Proß, ich habe diesen Gegenstand nicht aus Neugierde, sondern aus wirklicher Teilnahme zur Sprache gebracht.«
    »Nun«, sagte Miß Proß, durch den Ton besänftigt, in dem diese Verwahrung vorgebracht wurde, »er fürchtet sich vor der ganzen Sache.«
    »Er fürchtet sich?«
    »Der Grund davon ist einfach genug, sollt ich denken«, sagte Miß Proß. »Es ist eine schreckliche Erinnerung, und außerdem ging der Verlust seiner selbst daraus hervor. Da er nicht weiß, wie er seinen Verstand verlor und wie er wieder zu sich
kam, so mag er wohl in Angst leben, er könnte wieder irre werden. Schon dieser Umstand, denk ich, könnte ausreichen, um solchen Rückblick lieber zu meiden.«
    Mr. Lorry hatte keine so tiefe Bemerkung erwartet.
    »Ihr habt recht«, sagte er, »es ist ein schrecklicher Gedanke. Doch bin ich ein wenig in Zweifel, Miß Proß, ob es für

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