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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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einige Zweifel nachdenklich mit sich herumtrug und ihm bekannt war, daß er bei der Art, wie man im Hause des Doktors lebte, wahrscheinlich jetzt am ehesten Gelegenheit für deren Lösung finden würde.
    Einen behaglicheren Winkel als den, in dem der Doktor wohnte, gab es in ganz London nicht. Der Weg ging dort nicht weiter, und die Vorderfenster von des Doktors Wohnung boten eine angenehme Aussicht auf die Straße, die ganz einsam war. Nördlich von dem Oxforder Wege standen damals noch nicht viele Häuser, und auf den jetzt verschwundenen Feldern sah man Waldbäume, wilde Blumen und Weißdorn. Eine Folge davon war, daß in Soho die Landluft in kräftigender Freiheit sich umtrieb und nicht in das Kirchspiel hineinschlich wie verirrte obdachlose Arme. Auch sah man manche südlich gelegene Mauer, an deren Spalieren zu ihrer Zeit die Pfirsiche hingen.
    Früh am Tag wurde die Ecke prächtig von der Sonne beschienen; aber wenn die Straßen heiß wurden, trat sie in den Schatten, doch nicht so sehr, daß man nicht darüber hinaus in ein Lichtmeer hätte schauen können. Es war ein kühles Plätzchen, aber doch zugleich heiter, ein wundervoller Platz für das Echo und ein wahrer Rettungshafen vor dem Straßenlärm.
    An einem solchen Ankerplatz konnte man mit Recht eine
ruhige Barke erwarten, und sie war auch vorhanden. Der Doktor bewohnte zwei Stockwerke eines großen stillen Hauses, in dem tagsüber angeblich mehrere Gewerbe betrieben wurden, obschon man nur wenig davon hörte und nachts alles ausgeflogen zu sein schien. In einem Gebäude an der Hinterseite, zu dem man über einen Hof mußte, wo die grünen Blätter einer Platane im Winde rauschten, wurde, wie es den Anschein hatte, Kirchenorgelbau betrieben und Silberschmelz gefertigt, ferner Gold geschlagen von einem geheimnisvollen Riesen, der seinen glänzenden Arm an der Vordermauer zeigte, als hätte er sich selbst zu Gold geschlagen und wolle das auch mit allen so machen, die zu ihm kämen, und drohe allen Besuchern mit einer ähnlichen Umwandlung. Doch sah oder hörte man nur wenig von diesen Gewerben, ebensowenig wie von dem einsamen Mieter, der eine Treppe hoch wohnen, oder von einem Hersteller von Kutschenbeschlägen, der unten sein Kontor haben sollte. Hin und wieder legte wohl ein einzelner Arbeiter seinen Rock an und kam durch das Tor, es sah sich ein Fremder darin um, man vernahm über den Hof herüber ein fernes Klimpern, oder man hörte einen Schlag des goldenen Riesen. Dies waren jedoch nur Ausnahmen, die zur Bestätigung der Regel dienten, daß auf der Platane hinter dem Haus das Volk der Sperlinge und an der Ecke davor das Echo unbestrittene Herrschaft übte, vom Sonntagmorgen an bis zum Samstagabend.
    Doktor Manette empfing hier die Patienten, die ihm sein alter Ruf oder dessen Wiederbelebung durch die umlaufenden Gerüchte über sein Schicksal zuführte. Sein Wissen, seine Aufmerksamkeit und sein Geschick bei der Durchführung sinnreicher Versuche führten ihm neue Patienten zu, so daß er bald verdiente, was er brauchte.
    Von alledem hatte Mr. Jarvis Lorry Kunde, und seine Ge
danken waren eben damit beschäftigt, als er an dem schönen Sonntag nachmittag die Klingel vor der Tür des stillen Eckhauses zog.
    »Doktor Manette zu Hause?«
    Mußte gleich kommen.
    »Miß Lucie zu Hause?«
    Mußte auch gleich kommen.
    »Miß Proß zu Hause?«
    Möglich; doch wußte die Stubenmagd nicht, ob Miß Proß den Tatbestand zuzugeben oder abzuleugnen geneigt war.
    »Ich bin selbst hier zu Hause und werde hinaufgehen«, sagte Mr. Lorry.
    Obschon die Tochter des Doktors nichts von ihrem Geburtslande gesehen hatte, schien doch das Geschick, aus wenigem viel zu machen – ein ebenso angenehmer wie nützlicher Zug im Charakter der Französinnen – mit der Luft ihr angeflogen zu sein. Die Einrichtung wurde bei all ihrer Einfachheit sehr gehoben durch allerlei kleine Verzierungen, die nur durch die geschmackvolle Anordnung einen Wert erhielten und einen angenehmen Eindruck machten. Die Aufstellung der Gegenstände in den Zimmern, vom größten bis zum kleinsten, die Verteilung der Farben und die zierliche Abwechslung, die eine glückliche Hand, ein klares Auge und ein feiner Sinn selbst mit Kleinigkeiten zu erzielen wußten, wirkten so gewinnend und verdankten dem Geist der Ordnerin ein so eigentümliches Gepräge, daß sogar die Stühle und die Tische unseren Freund Lorry, wie er umherschauend dastand, mit einem Anflug von jenem ihm mit der Zeit so vertraut gewordenen

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