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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Schillinge und Halbkronen verführte, sie in die Geheimnisse der französischen Küche einzuweihen. Von diesen heruntergekommenen Söhnen und Töchtern Galliens hatte sie sich so wunderbare Kunststücke angeeignet, daß die Magd und die Ausläuferin, die den Stab des Hausgesindes bildeten, sie für eine Zauberin ansahen, die sich nur ein Huhn, ein Kaninchen oder ein paar Sorten Gemüse holen zu lassen brauchte, um Wunderdinge damit zu verrichten.
    An den Sonntagen speiste Miß Proß mit am Tisch des Doktors, an Werktagen aber ließ sie sich's nicht nehmen, ihre Mahlzeiten zu unbekannten Stunden entweder in den unteren Regionen oder auf ihrem im zweiten Stock gelegenen Stübchen
(ein blau tapeziertes Gelaß, zu dem niemand als das Täubchen Zutritt hatte) einzunehmen. Bei dem gegenwärtigen Anlaß verlief auch das Essen gar angenehm und im Einklang mit Täubchens lieblichem Gesicht und offenbarem Bemühen, Miß Proß zu gefallen, die über das ganze Gesicht strahlte.
    Es war ein schwüler Tag, und Lucie machte deshalb nach dem Essen den Vorschlag, den Wein draußen in freier Luft unter der Platane zu genießen. Da sich alles nach ihr richtete und um sie drehte, so begab man sich hinaus unter die Platane, und sie selbst trug Mr. Lorry die Flasche nach. Sie hatte sich nämlich schon vor einiger Zeit zu Mr. Lorrys Mundschenk ernannt, und während man unter der Platane plauderte, sorgte sie dafür, daß sein Glas nicht leer wurde.
    Dennoch wollten die Hunderte von Leuten noch immer nicht kommen. Während sie unter der Platane saßen, stellte sich zwar Mr. Darnay ein; aber das war nur einer.
    Doktor Manette empfing ihn freundlich, und Lucie tat desgleichen; Miß Proß dagegen wurde plötzlich von einem Reißen im Kopf und im Leibe befallen und kehrte in das Haus zurück. Sie war diesem Übel nicht selten ausgesetzt und bezeichnete es in vertraulicher Unterhaltung als ›kleine Anfälle‹.
    Der Doktor war in seiner besten Stimmung und sah ganz besonders jugendlich aus. In solchen Stunden fiel die Ähnlichkeit zwischen ihm und seiner Tochter unverkennbar in die Augen, und es gewährte einen Genuß, sie bis in die einzelnen Züge zu verfolgen, während beide nebeneinandersaßen, sie an seine Schulter gelehnt und er den Arm auf die Lehne ihres Stuhles stützend.
    Er hatte über viele Gegenstände mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit gesprochen.
    »Erlaubt mir die Frage, Doktor Manette«, sagte Mr. Darnay, während sie unter der Platane saßen, in natürlicher Anknüp
fung an das eben behandelte Gesprächsthema, das sich um die alten Gebäude von London drehte, »ob Ihr viel vom Tower gesehen habt.«
    »Ich bin mit Lucie schon dort gewesen, aber nur gelegentlich. Wir haben so viel davon gesehen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß er sehr interessant sein muß, mehr nicht.«
    »Auch ich war dort, wie Ihr Euch erinnern werdet«, versetzte Darnay mit einem Lächeln, obschon zugleich ein unmutiges Rot leicht über sein Antlitz glitt, »freilich in einer Eigenschaft, die mir keine Gelegenheit gab, viele Beobachtungen zu machen. Jedoch wurde mir während meines Aufenthalts dort eine merkwürdige Geschichte erzählt.«
    »Und die war?« fragte Lucie.
    »Bei Gelegenheit vorzunehmender Veränderungen stießen die Werkleute auf einen alten Kerker, der vor vielen Jahren aufgeführt und vergessen worden war. In seinem Innern konnte man auf jedem Mauersteine von den Gefangenen eingegrabene Inschriften lesen – Daten, Namen, Klagen und Gebete. Auf einen Eckstein in einem Mauerwinkel hatte ein Gefangener, der wahrscheinlich hingerichtet wurde, als letzte Arbeit drei Buchstaben eingeritzt. Der Ausführung sah man die Flüchtigkeit, die unstete Hand und das dürftige Werkzeug an. Anfangs hatte man gelesen: D . I . C .; bei sorgfältiger Untersuchung aber erkannte man in dem letzten Buchstaben ein G. Da man von einem Gefangenen, dessen Namen diese Anfangsbuchstaben hatte, nichts wußte, so erschöpfte man sich in allerlei Vermutungen, bis endlich jemand auf den Gedanken kam, daß man hier keine Initialen, sondern das Wort dig (grabe) vor sich habe. Sofort wurde der Boden unter der Inschrift sorgfältig untersucht, und man fand wirklich unter einem Stein, einem Ziegel oder einem Pflasterbruchstück, die Asche von Papier, gemischt mit der eines kleinen Lederfutterals oder eines Beu
tels. Was der Gefangene geschrieben hatte, wird nie mehr ans Licht kommen; aber geschrieben hatte er etwas und es versteckt, damit es von seinem Schließer nicht

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