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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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immer vorn gewesen. Selbst als wir im Quartier latin miteinander Französisch, französisches Recht und anderes französisches Zeug studierten, aus dem wir eben nicht viel Gutes holten, warst du immer irgendwo und ich immer nirgends.«
    »An wem lag die Schuld?«
    »Meiner Seel, ich weiß nicht, ob ich sie nicht dir zuschreiben muß. Du hast immer so für dich gedrängt, getrieben und gebohrt, daß mir nichts mehr übrigblieb, als Ruhe zu halten. 's ist übrigens etwas Trübseliges, bei anbrechendem Tag von seiner Vergangenheit zu reden. Bring mich in eine andere Stimmung, eh ich gehe.«
    »Wohlan denn, stoß mit mir an – die schöne Zeugin!« sagte Stryver, ihm das Glas hinhaltend. »Bringt dich das nicht in eine angenehmere Laune?«
    Augenscheinlich nicht, denn er wurde nur düsterer.
    »Schöne Zeugin«, brummte er, in sein Glas hineinsehend. »Ich habe den Tag über und heute nacht genug mit Zeugen zu schaffen gehabt. Wer ist deine schöne Zeugin?«
    »Die Tochter des merkwürdigen Doktors, Miß Manette.«
    »Die und schön?«
    »Ist sie's nicht?«
    »Nein.«
    »Ei, Mensch, was fällt dir ein? Sie war ja ein Gegenstand der Bewunderung für das ganze Gericht.«
    »Zur Hölle mit der Bewunderung des ganzen Gerichts! Was versteht Old Bailey von Schönheit? Sie war eine goldhaarige Puppe.«
    »Laß dir was sagen, Sydney«, bemerkte Mr. Stryver, ihn scharf ansehend und mit der Hand langsam über sein blühendes Gesicht fahrend, »laß dir was sagen: es kam mir einmal vor, als gefiele dir die goldhaarige Puppe. Hast du nicht im Augenblick bemerkt, was der goldhaarigen Puppe zustieß?«
    »Was willst du damit? Wenn einem ein Mädel, sei's eine Puppe oder nicht, einen Schritt oder zwei vor der Nase in Ohnmacht fallen will, so sieht man das ohne Fernglas. Ich stoße mit dir an, stelle aber die Schönheit in Abrede. Und nun mag ich nicht mehr trinken; ich will zu Bette gehen.«
    Als ihm sein Wirt zur Treppe hinausleuchtete, schaute der Tag bereits frostig durch die matten Fensterscheiben herein. Draußen war die Luft kalt und dunstig, der Himmel grau überlaufen, der Fluß trübe, und die ganze Umgebung nahm sich wie eine leblose Wüste aus. Im Morgenwind wirbelten Staubschwaden dahin, als hätte in der Ferne der Wüstensand sich erhoben und finge an, die Stadt zu überschütten.
    Ungenutzte Kräfte in seinem Innern und Öde rings um ihn her. Carton blieb auf seinem Weg über eine stille Terrasse stehen und sah in der Wüste vor sich für einen Augenblick eine
Luftspiegelung von ehrenhaftem Streben, Selbstüberwindung und Beharrlichkeit. In der schönen Stadt, die als Fata Morgana vor ihm schwebte, gab es luftige Galerien, von denen Amoretten und Grazien auf ihn niederschauten, Gärten, in denen die Früchte des Lebens reiften, und Springquellen, die vor lauter Hoffnung funkelten. Ein Augenblick, und es war vorbei. Er stieg die Treppe zu seiner Dachkammer hinauf, warf sich angekleidet auf ein vernachlässigtes Bett und netzte das Kissen mit nutzlosen Tränen.
    Glanzlos ging die Sonne auf; aber sie beschien nichts Traurigeres als diesen Mann von guten Anlagen und edlen Gefühlen, der seine Fähigkeiten nicht zu verwenden und sich selbst nicht zu helfen vermochte, sondern im Bewußtsein des an ihm haftenden Giftes sich darein ergab, vollends von ihm aufgezehrt zu werden.
    Sechstes Kapitel
    Hunderte von Leuten
    Die ruhige Wohnung des Doktor Manette befand sich an der Ecke einer stillen Straße nicht weit von Soho Square. An einem schönen Sonntag nachmittag – die Wellen von vier Monaten waren bereits über den Hochverratsprozeß dahingegangen und hatten ihn, sofern das öffentliche Interesse und die Erinnerung daran in Frage kamen, weit in die hohe See entführt – wanderte Mr. Jarvis Lorry von seiner Wohnung in Clerkenwell aus durch die sonnigen Straßen, um bei dem Doktor zu speisen. Nach mehreren Rückfällen von ausschließlicher Vertiefung ins Geschäft war Mr. Lorry endlich des Doktors Freund geworden, und die stille Straßenecke bildete den sonnigen Teil seines Lebens.
    An dem gedachten schönen Sonntag wanderte Mr. Lorry aus drei Gewohnheitsgründen früh am Nachmittag Soho zu: Erstens, weil er gern an schönen Sonntagen vor dem Essen mit dem Doktor und Lucie einen Spaziergang zu machen pflegte; zweitens, weil er an unschönen Sonntagen daran gewöhnt war, als Hausfreund mit ihnen zu plaudern, zu lesen, zum Fenster hinauszuschauen und so in der Regel den ganzen Tag hinzubringen; und drittens, weil er zufällig

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