Eine Geschichte aus zwei Städten
Doktor Manette auch gut ist, daß er ihn so in sich verschlossen trägt. Und wirklich ist das Bedenken und die Unruhe, die dieser Gedanke bisweilen in mir erregt, der Anlaß zu unserem vertraulichen Gespräch.«
»Das läßt sich nicht ändern«, sagte Miß Proß mit Kopfschütteln. »Wenn man diese Saite berührt, so hat man nichts als Mißklang, und es ist am besten, man läßt ihn gehen; mit einem Wort, das muß man tun, mag man wollen oder nicht. Bisweilen steht er mitten in der Nacht auf, und wir hören dann, wie er über uns in seinem Zimmer auf und ab, auf und ab geht. Mein Täubchen hat herausgebracht, daß dann sein Geist in dem alten Gefängnis umherwandelt. Sie eilt zu ihm hinauf, und sie gehen dann miteinander auf und ab, auf und ab, bis er ruhig geworden ist. Aber er läßt nie ein Wort über die wahre Ursache seiner Unruhe gegen sie fallen, und sie hält es für das beste, wenn sie nicht mit ihm darüber spricht. So wandeln sie denn schweigend im Zimmer auf und ab, auf und ab, bis ihre Liebe und ihre Gesellschaft ihn wieder zu sich gebracht hat.«
Miß Proß hatte zwar geleugnet, daß sie Einbildungskraft besitze; doch lag in der Wiederholung der Phrase ›auf und ab‹ eine Auffassung der Pein, stets von demselben traurigen Gedanken verfolgt zu werden, die bewies, daß doch etwas von solchem Vermögen in ihr lebte.
Wie bereits erwähnt wurde, war die Ecke wegen ihres Echos merkwürdig; dieses hatte gerade jetzt den Schall herankom
mender Schritte so kräftig wiedergegeben, daß es den Anschein gewann, als seien sie durch die bloße Erwähnung des unheimlichen Aufundabwandelns in Bewegung gesetzt worden.
»Da sind sie!« sagte Miß Proß, indem sie aufstand, um die Unterhaltung abzubrechen, »und nun werden wir gar bald Hunderte von Leuten hierhaben.«
Die Ecke hatte so besondere akustische Eigentümlichkeiten, war sozusagen das leibhaftige Ohr eines Platzes, daß Mr. Lorry, als er an dem offenen Fenster stand und nach dem Vater und der Tochter ausblickte, deren Schritte er bereits hörte, sich einbildete, sie würden niemals kommen. Nicht nur erstarb das Echo, als seien die Schritte vorüber, sondern man hörte auch statt ihrer den Widerhall anderer Tritte, die nie kamen und die plötzlich verstummten, wenn man sie in unmittelbarster Nähe zu haben meinte. Gleichwohl kamen Vater und Tochter endlich doch, und Miß Proß stand an der Haustür bereit, sie zu empfangen.
Trotz ihrem abenteuerlichen roten Äußeren bot Miß Proß einen erfreulichen Anblick, als sie ihrem die Treppe heraufsteigenden Liebling den Hut abnahm, mit den Zipfeln ihres Taschentuchs darüber hinstrich, den Staub abblies, den Mantel abnahm und in die rechten Falten legte und ihr das reiche Haar mit so viel Stolz glättete, wie es nur die schönste und eitelste der Frauen mit ihrem eigenen tun konnte. Auch das geliebte Mädchen bot einen erfreulichen Anblick, als es die treue Pflegerin umarmte, ihr dankte und durchaus nicht haben wollte, daß man sich um seinetwillen soviel Mühe gebe – dieses natürlich nur im Scherz, da sonst Miß Proß sich ernstlich beleidigt gefühlt hätte und in ihr Zimmer gegangen wäre, um zu weinen. Nicht minder bot der Doktor einen wohltuenden Anblick, als er Miß Proß erklärte, daß sie Lucie verderbe, aber in den Ton, mit dem er dies sagte, und in die Blicke, mit de
nen er die beiden betrachtete, ebensoviel Zärtlichkeit legte, wie Miß Proß, wenn sie sich alle Mühe gab, aufzubringen vermocht hätte. Und endlich war auch Mr. Lorry lieblich anzusehen, wie er unter seiner kleinen Perücke all dies strahlend beobachtete und seinen Junggesellensternen dankte, daß sie ihm am Abend seines Lebens nach einer Heimat geleuchtet hatten. Aber es kamen keine Hunderte von Leuten, um sich dieser Schauspiele zu erfreuen, und Mr. Lorry sah sich vergeblich um, wann einmal die Prophezeiung der Miß Proß in Erfüllung gehen werde.
Essenszeit und noch keine Hunderte von Leuten.
In dem kleinen Haushalt verwaltete Miß Proß die unteren Regionen und machte ihre Sache sehr gut. Ihre Mahlzeiten waren zwar sehr bescheiden, aber trefflich zubereitet und in ihrer halb englischen, halb französischen Anordnung so zierlich und appetitlich serviert, daß man sich's nicht besser wünschen konnte. Miß Proß, die sich in ihrer Freundschaft durchaus praktisch erwies, hatte nämlich Soho und seine ganze Umgegend durchstöbert, bis es ihr gelungen war, einen oder den anderen verarmten Franzosen aufzufinden, den sie durch
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