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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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aufgefunden würde.«
    »Mein Vater!« rief Lucie, »Ihr seid unwohl!«
    Er war plötzlich aufgefahren und hatte die Hand an seinen Kopf gelegt. Sein Blick und sein ganzes Wesen beunruhigte sie alle. »Nein, mein Kind, nicht unwohl. Es sind große Regentropfen gefallen, und sie haben mich erschreckt. Laßt uns lieber hineingehen.«
    Er hatte sich schnell wieder gefaßt. Der Regen fiel wirklich in großen Tropfen, und er zeigte sie auf der Rückenfläche seiner Hand. Über die Entdeckung aber, von der die Rede gewesen, verlor er kein Wort, und während sie ins Haus hineingingen, machte Mr. Lorrys aufmerksames Auge die Wahrnehmung, oder glaubte wenigstens sie gemacht zu haben, daß auf dem Gesicht des Doktors, als er sich Charles Darnay zuwandte, jener eigentümliche Ausdruck zu bemerken war, mit dem er in den Gängen des Gerichts nach ihm hingesehen hatte.
    Dies war jedoch nur so flüchtig gewesen, daß Mr. Lorry die Verläßlichkeit seines Auges fast bezweifelte. Der Arm des goldnen Riesen über dem Hausflur erschien nicht ruhiger als der Doktor, der, während er darunter haltmachte, die Bemerkung hinwarf, daß er gegen kleine Erschütterungen noch nicht gehörig gestählt sei, vielleicht es auch nie werde, und der Regen habe ihn wirklich erschreckt.
    Teezeit. Miß Proß bereitete den Tee unter einer abermaligen Wiederkehr ihrer ›Anfälle‹; aber noch immer kamen keine Hunderte von Leuten. Mr. Carton hatte sich eingefunden; doch das waren erst zwei.
    Der Abend war so übermäßig schwül, daß man vor Hitze fast verschmachtete, obschon die Türen und Fenster offenstan
den. Nachdem der Teetisch abgeräumt war, gingen sie an eines der Fenster und schauten in die düstere Dämmerung hinaus. Lucie setzte sich neben ihren Vater, Darnay neben Lucie, Carton lehnte sich auf den Sims. Die Vorhänge waren lang und weiß, und einige von den Windstößen, die sich in dem Straßenwinkel fingen, hatten sie an die Decke hinaufgerissen, daß sie wehten wie Gespensterflügel.
    »Noch immer fallen die Tropfen spärlich, groß und schwer«, sagte Doktor Manette. »Es kommt langsam.«
    »Aber sicher«, bemerkte Carton. Sie sprachen leise, wie wartende Leute gewöhnlich zu tun pflegen, namentlich wenn sie in einem dunklen Zimmer sitzen und des Blitzstrahles harren.
    In den Straßen wurde es sehr lebhaft, die Leute eilten dahin, um vor dem Losbrechen des Gewitters ein Unterkommen zu suchen. Der durch seinen Widerhall so merkwürdige Winkel führte wohl das Echo von kommenden und gehenden Tritten her, aber keine wirklichen.
    »Eine Menge Volks und doch eine solche Abgeschiedenheit«, sagte Darnay, nachdem sie eine Weile gelauscht hatten.
    »Ist dies nicht eindrucksvoll, Mr. Darnay?« fragte Lucie. »Hin und wieder habe ich den ganzen Abend hier gesessen, bis ich mir einbildete … aber heute, da alles so schwarz und feierlich ist, macht sogar der Schatten einer törichten Vorstellung mich schaudern …«
    »So wollen wir mitschaudern. Dürfen wir wissen, was Euch Eure Phantasie vorführte?«
    »Es wird Euch wohl sehr nichtig erscheinen. Ich glaube, solche Grillen machen nur im Augenblick Ihres Entstehens einen Eindruck; er läßt sich nicht übertragen. Ich habe bisweilen in den Abendstunden allein hier gesessen und habe gelauscht, bis es mir vorkam, die Echos, die ich vernähme, seien
der Widerhall der Schritte all der Menschen, die bestimmt sind, uns in unserem Leben zu begegnen.«
    »Wenn das zuträfe, müßte es eines Tages in unserem Leben ein starkes Gedränge geben«, fiel Sydney Carton in seiner mürrischen Weise ein.
    Die Tritte hörten nicht auf und wurden immer schneller und schneller. Die Ecke echote und hallte wider von Schritten, einige, wie es schien, unter den Fenstern, andere im Zimmer, die einen kommend, die anderen gehend, die einen innehaltend, die anderen ganz aufhörend – alles dies in den fernen Straßen, ohne daß man eines Menschen ansichtig wurde.
    »Ist die Gesamtheit dieser Tritte für uns alle bestimmt, oder werden wir uns darin teilen müssen, Miß Manette?«
    »Ich weiß es nicht, Mr. Darnay. Ich sagte Euch ja, es sei eine törichte Vorstellung; aber Ihr habt sie wissen wollen. Als ich mich in sie hineinträumte, war ich allein, und ich bildete mir ein, es seien die Schritte von Menschen, die in mein und meines Vaters Leben hereinkämen.«
    »Ich nehme sie für das meinige in Anspruch«, sagte Carton, »und ich stelle keine Fragen und mache keine Bedingungen. Da kommt eine schwere Menge auf uns herunter,

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